Essen. . Avril Lavigne (34) ist wieder da: Auf ihrem ersten Album seit über fünf Jahren erzählt sie vom Drama ihres Lebens. Der Titel: „Head Above Water“

Avril Lavigne ist auf die ganz harte Tour erwachsen geworden. „Eines Nachts habe ich geglaubt, ich sterbe. Und irgendwie hatte ich meinen Frieden mit dem Tod gemacht“, sagt sie, mehr als drei Jahre nach dieser traumatischen Erfahrung. „Meine Mutter lag neben mir im Bett und hielt mich fest. Ich hatte das Gefühl, dass ich ertrinke.“ Mit letzter Atemkraft habe sie zu Gott gebetet, dass er ihr helfen mögen, ihren Kopf über Wasser zu halten. „In diesem Moment“, so Lavigne, „begann mein Songwriting für das neue Album. Es war so, als wäre ich auf eine sprudelnde Quelle gestoßen. Das war ein unerwarteter Moment der großen Befreiung. Die Worte und Melodien sprudelten ab diesem Zeitpunkt unablässig durch mich durch.“

2013 erkrankte Avril Lavigne an Hirnhautentzündung

Nun klingt die Schilderung, in einem Moment mit dem Leben abgeschlossen zu haben und im nächsten gleich wieder an die Arbeit zu denken, etwas verwegen. Aber so erinnert sich die 34-Jährige nun einmal an das Geschehen, und so wird sie nicht müde, es zu erzählen. Man muss etwas ausholen bei der Geschichte von Avril Lavignes sechstem Album „Head Above Water“: Lavigne war sehr krank. Während der Tournee zu ihrem vorherigen, 2013 erschienenen Werk, „Avril Lavigne“ muss sie eine Zecke gebissen haben, sie fühlte sich schwächer und schwächer, doch bis die Diagnose „Lyme-Borreliose“ (eine Form der Hirnhautentzündung) Ende 2014 endlich feststand, verging viel Zeit. „Ich war erleichtert, als ich endlich wusste, was los ist“, sagte sie jüngst dem britischen „Guardian“, aber sie sei auch verärgert gewesen, dass man die Krankheit nicht früher festgestellt hatte.

In den folgenden zwei Jahren verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit zu Hause in Beverly Hills im Bett, umsorgt von ihrer Mutter. Die Genesung schreitet in Trippelschritten voran, es dauert, bis die Antibiotika wirken. „Ich verlor viel Muskelmasse, wurde immer schwächer“, erklärt Avril. „Aber die Zwangspause hat mich wirklich zur Ruhe kommen lassen und mir geholfen, meine Gefühle zu Papier zu bringen. So wie früher, als ich Tagebuch schrieb. Das war ein tröstendes Gefühl und sicher eine Form der Heilung.“

„Ich empfinde die Songs als sehr ehrlich und aufrichtig“

Sie schleppt sich ans Piano, wann immer sie kann. Avril Lavigne war (entgegen der verbreiteten Überzeugung) nie ein Plattenfirmen-Püppchen, sondern immer schon maßgeblich am Komponieren der eigenen Lieder beteiligt. So federführend wie bei „Head Above Water“ jedoch war sie noch nie. „Vor allem empfinde ich die Songs als sehr ehrlich und aufrichtig“, sagt Lavigne. „Ich hatte so viel Zeit, dass ich mir selbst wirklich sehr nah gekommen bin. Ich verheimliche nichts, ich erzähle darüber, wie es mir in den vergangenen Jahren ergangen ist, was in meinem Leben passiert ist.“

Die neuen Lieder haben nicht mehr viel mit der alten Avril gemeinsam. Mit der Avril, die 2002 noch nicht ganz volljährig war, als sie mit ihrem Debüt „Let Go“ sowie den Singles „Complicated“ und „Sk8ter Boi“ für Millionen vor allem weiblicher Teenager eine lebensnähere Identifikationsfigur abgab als etwa eine Britney Spears. Lavigne, im kanadischen Städtchen Napanee in Ontario geboren, früh gesangsverliebt und nach einem gemeinsamen Auftritt mit Shania Twain bald von Musikmogul LA Reid unter Vertrag genommen, punktete mit einer latent mürrischen, aber auch kecken Leck-mich-Attitüde, in ihren Songs rief sie zu Baby-Revolutionen auf, wie einfach mal durch den Hausflur zu skaten, die Botschaft war: Jungs sind cool, aber auch egal. Entscheidend ist: Spaß haben.

Die 34-Jährige ist bereits zweimal geschieden

Das ging noch ein paar Jahre gut, irgendwann allerdings klaffte die Schere zwischen Teenagerhymnen wie „Girlfriend“ (2007, ihre einzige Nummer Eins in den USA) oder „Here’s To Never Growing Up“ zu weit auseinander. Avril verrannte sich in dem Bemühen, in ihrer Musik für immer 17 zu bleiben und in ihrem Leben schon lange kein Kind mehr zu sein. Zwei Mal ist sie geschieden. 2010 endete die Ehe mit ihrer Jugendliebe Deryck Whibley, dem Sänger der Funpunkband Sum 41. Und nach einer etwas seltsamen Blitzbeziehung mit Nickelback-Frontmann Chad Kroeger (Kennenlernen, Verlobung, Hochzeit, Scheidung innerhalb von zwei Jahren) sind jetzt zunächst mal Musik und Gesundwerden wichtiger als die nächste Liebelei.

Auf „Head Above Water“ ist die Unbeschwertheit der bisherigen Avril verschwunden. Auch die Berufsjugendlichkeit ist passé. Endlich klingt ihre Musik nicht mehr halb so alt wie sie ist. Als Soundtrack zur Kissenschlacht taugt lediglich die fetzige Retropopnummer „Dumb Blonde“, in deren Text die Kanadierin freilich mit dickem Kuli unterstreicht, eben kein doofes Blondchen zu sein. Vorsichtig fröhlich ist vielleicht noch „Love Me Insane“, in „Crush“ und „Goddess“ nähert sich Madame Avril gar dem Jazz. Aber im Mittelpunkt des Albums stehen Ermutigungs- und Selbstertüchtigungshymnen wie „Birdie“ („You can’t chain me down no more“), „It Was In Me“ („All I needed was a little trust in myself“) oder „I Fell In Love With The Devil“ („Please safe me from this hell“). Das ist Drama-Pop allererster Güte, im Stil von Christina Aguilera oder Anastacia. Um welche toxische Beziehung es in den diversen Liedern geht, will sie aber dann doch nicht verraten, um Chad Kroeger („Wir mögen uns noch immer“) jedenfalls nicht.

Das Hauptinstrument des Albums? Die eigene Stimme!

„Mir war wichtig, dass das Hauptinstrument auf diesem Album meine eigene Stimme ist“, sagt Lavigne zu dem mit einer Vielzahl von Produzenten verwirklichten „Head Above Water“. „Ich wollte nicht alles mit irgendwelchen Beats und Rhythmen zukleistern.“ Die meisten Hitsongs seien ja heutzutage so aufgebaut, dass man die Stimme kaum noch wahrnehmen kann. „Ich wollte das Gegenteil: Nämlich die Musik um meinen Gesang herumbauen.“

Lavigne verabschiedet die Hörerinnen aus diesem Album mit einer Kampfansage, der trotzig-zuversichtlichen Pianopowerballade „Warrior“ („I won’t bow, I won’t break, I won’t give up“). Sehr ernst, sehr nordamerikanisch, aber auch sehr wirkungsvoll. „Wir alle haben Herausforderungen zu bestehen. Ich selbst bin lebendig und stärker als je zuvor aus der Schlacht meines Lebens hervorgegangen. Ich verheimliche und verstecke nichts. Und ich hoffe, dass dieses Album anderen Menschen Mut macht. Oft sprechen mich meine Fans an, wie sehr ihnen meine Musik durch schwere Zeiten geholfen hat. Das finde ich ganz, ganz wunderbar.“