Essen. . „Weißer Tod“ ist der nunmehr vierte Fall für Ermittler Cormoran Strike – und einmal mehr ein Porträt der britischen Gesellschaft.
Dass dieser Cormoran Strike ein Kuckucks-Kind unter den zeitgenössischen Krimi-Ermittlern ist, das hätte man ahnen können. Allein der Name! So sprechend wie, sagen wir, Hermine Granger (darin der „stranger“, der Fremde) oder Severus Snape (und „snake“ ist ja die Schlange). Der Kormoran nun jagt kleine und große Fische, der Nachname Strike bedeutet „Schlag“ oder „Treffer“. Den wiederum landete die Mitarbeiterin einer Anwaltskanzlei, als sie 2013 via Twitter verriet, dass der erste Cormoran-Strike-Krimi „Der Ruf des Kuckucks“ aus der Feder der Harry-Potter-Zauberkönigin J.K. Rowling stammt. Muss man noch erwähnen, dass hernach die Verkaufszahlen durch die Decke gingen?
Klassen und Unterschiede
„Weißer Tod“, der nunmehr vierte Band von „Robert Galbraith“ (so Rowlings Pseudonym), dümpelt in der Start-Woche allerdings noch am Ende aller Bestsellerlisten herum. Dies könnte daran liegen, dass Krimi-Fans bei Galbraith/Rowling das ganz große Spannungsdrama missen müssen. Zu sehr ist die Autorin stets damit beschäftigt, die britische Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und Klassenunterschieden zu sezieren.
Während ihr Cormoran Strike in einer Bruchbude gleich über seiner Detektei im lärmenden Zentrum Londons haust, lebt seine Assistentin Robin Ellacott mit ihrem wohlhabenden Gatten in einem kleinen Häuschen im noblen Vorort. Dass es zum wahren Londoner Luxus gehört, in aller Stille (ohne hereindringenden Straßenlärm) dem Klimpern eines Löffels in der Teetasse zu lauschen, das gehört zu den vielen feinen Beobachtungen. Sichtliche Freude bereitet es Rowling, die Welt der geschlossenen Lunch-Clubs, der Pferderennen und der hinter hohen Hecken versteckten Landsitze zu beschreiben – sowie ihre schrulligen, in der eigenen Wichtigkeit gefangenen Bewohner. Weil die Autorin in ihrem bewegten Leben in vielen Gesellschaftsschichten daheim war, kann sie ebenso glaubhaft einen Auftritt von Prinz Harry auf einem illustren Empfang schildern wie die Sorgen und Nöte einer Kleinstadt-Friseuse im mittleren Alter. Ging es nicht auch bei Harry Potter stets um Gerechtigkeit für jene, die Außenseiter waren?
Bei all diesen Details könnte man aus dem Auge verlieren, dass wir einen Krimi lesen! Auf den ersten 300 Seiten passiert kaum mehr, als dass ein verwirrter Mann namens Billy in Cormorans Büro stürmt und behauptet, vor vielen Jahren einen Kindesmord mit angesehen zu haben. Und dann wird Strike von einem Politiker engagiert, der ein Boris-Johnson-Double sein könnte – dieser Jasper Chiswell hat eine Frisur von der Form eines „Schornsteinbesens“, mit „langen, drahtig glatten Strähnen“: „In Kombination mit dem breiten roten Gesicht, den kleinen Äuglein und der vorstehenden Unterlippe wirkte er wie ein Riesenbaby, das stets kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand.“ Der Politiker wird erpresst, lange aber wird der Leser nicht erfahren, was sein Vergehen ist. Robin Ellacott gelangt undercover ins House of Parliament, während Strike Anti-Olympia-Demos besucht – wir schreiben das Jahr 2012, und das Sportereignis bildet die immer wieder erwähnte Kulisse fürs Geschehen (bleibt allerdings auch reine Kulisse).
Die Auflösung des Falles, der auf Seite 374 noch zum Mordfall wird, gestaltet sich so zauberhaft unerwartet, dass zum erfolgreichen Miträtseln magische oder hellseherische Fähigkeit nötig gewesen wären. Oder aber profunde Kenntnis von Ibsens Familien- und Psychodrama „Rosmersholm“, dessen markanteste Zitate Rowling jedem einzelnen Kapitel voranstellt.
Ein echter Gefühlskrimi
Man verzeiht solcherlei Spiele gerne, gestaltet sich doch die Beziehung zwischen Strike und seiner Assistentin Robin umso spannungsreicher. Bildete Robins Hochzeit den Vorspann zum Roman, sieht sie sich bald böse betrogen von ihrem frisch vermählten Gatten – und ohnehin dem versehrten, rauhen Strike mehr zugetan, als sie selbst sich eingestehen will. Der Gefühlskrimi endet offen – und so dürfen wir auf einen fünften Fall für Cormoran Strike hoffen.
Der Krimi „Weißer Tod“ von Robert Galbraith ist ab heute im Handel. Das Buch erscheint bei Blanvalet (864 S., 24 €).
Das Hörbuch wird ungekürzt gelesen von Dietmar Wunder und hat eine Laufzeit von über 21 Stunden. (Random House Audio, 24 €).