Essen. . Tragisches Thema, aber Magnus Vattrodt schlägt komische bis kritische Funken draus: „Ein großer Aufbruch“ am Essener Grillo
Der vorgezogene Leichenschmaus beginnt als Dinner: Champagner vorweg, Rotwein zum Reh, danach ein Sorbet. Dazwischen wollte Holm seinen großen Plan verraten, doch bevor der erste Korken knallt, ist es schon raus: Holm hat Krebs, Holm wird sterben. Holm weiß sogar das genaue Datum, denn er will sich in der Schweiz beim Sterben helfen lassen. Was nun in Gustav Ruebs Inszenierung von „Ein großer Aufbruch“ am Essener Grillo-Theater losbricht, ist ein Sturm der Entrüstung und der unliebsamen Offenbarungen. Aus dem vermeintlich letzten gemeinsamen Abendmahl wird ein rhetorisches Schlachtfest.
Selbstgefälligkeit in Cordhosen
Magnus Vattrodt hat ein Stück geschrieben, das als TV-Verfilmung schon mit Lob und Preisen überschüttet wurde. Auch auf der Bühne funktioniert es fabelhaft, dabei verweigert Regisseur Gustav Rueb große Bilder (Bühne: Peter Lehmann). Ein Tisch und Stühle, das ist fast schon alles, was dieses geistreiche, bitterböse, ironiefunkelnde Konversationsstück gut 100 pausenlose Minuten lang zum Schlagabtausch ganz eigener Art macht.
Holm hat geladen: seine besten Freunde Adrian und Katharina, die Töchter Charlotte und Marie nebst Begleitung. Und seine Ex-Frau Ella, die Mann und Kinder vor Jahrzehnten verließ, als Holm Entwicklungshelfer in Afrika war. Rasch wird die Fassade des selbstlosen Gutmenschen ebenso brutal eingerissen wie die Mär vom intakten Familienleben. Karrieristen-Tochter Marie hat nur Hass und Verachtung für den Vater, wobei sie in Gestalt von Floriane Kleinpaß fast schon eine Spur zu verbissen gegen den Alten wettert, während ihre Schwester Charlotte (als verhuschte Existenz: Silvia Weiskopf) nicht nur aus Gründen einer Zwiebelallergie zu Boden geht. Rasch dreht sich das Karussell wechselseitiger Vorwürfe und Enthüllungen. Und das Publikum staunt, wie dieses eigentlich so ernste und tragische Thema komische Funken schlägt.
Holms bis zur Selbstaufgabe solidarischer Freund Adrian, von Thomas Büchel als emotionaler Fußabtreter in Blümchenschürze stark gespielt, gerät da genauso in erotische Enthüllungsturbulenzen wie seine Frau Katharina, die Ines Krug mit famoser Angriffslust und triefendem Sarkasmus in den Ehekrieg führt. Jens Winterstein als Holm kleidet seine Rolle in stoische Selbstgefälligkeit und verbeulte Cordhosen (Kostüme: Dorothee Joisten), während Monika Bujinski die Ex-Ehefrau Ella als Ärztin mit Drogenvergangenheit zum souveränen Ruhepol werden lässt.
Überhaupt ist das Stück auch eine Abrechnung mit den 68ern: Es karikiert die Selbstsucht der Nonkonformisten ebenso wie ihre Verachtung gegenüber dem Kapital, dessen Annehmlichkeiten sie doch nicht verschmähen. Als personifiziertes Feindbild dient da Jan Pröhls zwischen Spott und Empathie austarierter Kanzleichef Heiko, der am Ende als einziger weiß, was Sterbehilfe bedeutet. Nachdenklicher Schluss eines ebenso vergnüglichen wie anregenden Abends. Langer Applaus.