Oberhausen. . Eine Puppe ist im Theater Oberhausen der Held aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung. Florian Fiedlers Inszenierung spielt meisterlich mit Horror-Zutaten
Welch ein Satz für eine kindergroße Puppe: „Mit uns wird gespielt, ohne dass wir es merken.“ Nathanael reißt dazu die überlebensgroßen blauen Augen weit auf in seinem stets erschrocken blickenden Gesicht. Für manche Momente dieser funkelnden Inszenierung von Florian Fiedler nach E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ meint man sogar, Mienenspiel unter den in die Stirn fallenden Haarsträhnen der Puppe zu erkennen. Aber das sind wohl nur die Schatten und nuancierten Bewegungen, mit denen dieser kleine Geniestreich der schwarzen Romantik in seiner neuen Bühnenfassung auftrumpft.
Im Großen Haus des Theaters Oberhausen braucht’s dafür gar nicht soviel. Eine weiße Gazewand begrenzt die Vorderbühne als perfekte Fläche für sparsam eingesetzte Projektionen – und für jene schaurigen Schattenspiele, die schon dem expressionistischen Stummfilm vor fast hundert Jahren so nachdrückliche Wirkung gaben. E. T. A. Hoffmanns Erzählung von den Angstträumen eines Kindes, die noch den Studenten Nathanael in den Wahnsinn treiben, ist weitere hundert Jahre älter – öffnet sich aber bis heute als Fundgrube der Deutungen, seien sie psychologisierend oder genderpolitisch.
Doch Fiedlers Inszenierung haut keine davon den Publikum holzhammerhart um die Ohren. Man bleibt vielmehr gefangen in der Geschichte und ihren Doppel- bis Vierfachbödigkeiten. Die aparteste: Die vier Schauspielerinnen – Ayana Goldstein, Elisabeth Hoppe, Ronja Oppelt und Lise Wolle – die Nathanael bewegen und sprechen, wechseln flugs in die Rolle der Verlobten Clara, sind damit zugleich Stimmen der begütigenden Vernunft und der panischen Angst.
Das ist im Spiel der vier keine verquere Kunstanstrengung, sondern fließt mit staunenswerter Eleganz – nicht nur in den Tanzszenen. Ebenso behände wechseln die Szenen in die Kindheit des Knaben, dem Klaus Zwick als Backenbart-zotteliger Vater den Anfang von Edgar Allan Poes „Das verräterische Herz“ erzählt. Augen sind hier ein entscheidendes Requisit – nicht nur das böse „Geierauge“ in Poes Horrorstory. Kinderaugen verfüttert auch der titelgebende Sandmann an seine spitzschnäbelige Brut auf dem Mond, wie Anna Polke als Mutter erzählt. Man weiß wirklich nicht, ob Ronja Oppelts Aufschrei – „Was seid ihr bloß für Eltern“ – noch zur Rolle gehört.
Augen flutschen auch durch die Alchemistenküche, in der „Thanelchens“ Vater mit dem sinistren Coppelius (Anna Polke) herumrührt. Es wäre schon fiese Spoilerei, verriete man die Special Effects dieser Schlüsselszene für das „Sandmann“-Trauma des Kindes.
Die Essenz der schaurigen Versuche (ein Echo von Fausts Homunculus wie von Mary Shelleys Kreatur) spiegelte E. T. A. Hoffmann in dem Automaten Olimpia, in die sich Nathanael verliebt. Nach und nach kleiden sich alle vier Puppenspielerinnen in den silbernen Sci-Fi-Chic, doch der erste Auftritt mit gezierten Roboterbewegungen als Olimpia gehört Lise Wolle. Aus ihren gehauchten „Achs“ wird dann ein Chor – und aus Nathanael ein spätromantischer Stammler.
Im Epilog ein falsches Idyll
Puppenliebe. „Wer ist hier menschlicher?“ Die Frage steht auf den Postkarten, die im Foyer des Theaters ausliegen. Die Antwort bleibt aus, selbst als Olimpia einen augenlosen Automatentod stirbt, sich Nathanael auf den Schöpfer stürzt, dann aber vom Wahn genesen scheint. Wie fast jedes der mit Hingabe ausgemalten Details dieser Hoffmann-Adaption, deren Spannung kaum je einknickt, zeichnet auch der biedermeierlich-brave Epilog nur scheinbar ein Idyll.
Anhaltender Applaus belohnt einen Genuss für jene Freunde des gepflegten Grusels, die sich nicht so schnell die Nachtruhe rauben lassen.