Essen. . Lit.Ruhr: Daniel Kehlmann las eine unveröffentlichte Science-Fiction-Story, Joschka Fischer warnte

Daniel Kehlmann hat es nach seinem internationalen Bestseller-Erfolg mit der intelligent zwinkernden „Vermessung der Welt“ verstanden, Presse und Publikum weiterhin gewitzt zu unterhalten, zu verwirren, auch zu provozieren, immer aber: zu überraschen. Sein jüngster Bestseller „Tyll“, der Eulenspiegels Leben in drastischen Bildern voller Armutsrealismus in den vor 400 Jahren ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieg verlegt, ist gerade in einer Vier-Stunden-Version im Kölner Theater uraufgeführt worden.

Unerhörtes im Salzlager

Deshalb hätte man vielleicht nicht überrascht sein dürfen, als Kehlmann am Dienstagabend zur Eröffnung der Lit.Ruhr im etwas abgelegenen Salzlager der Zollverein-Kokerei eine im wahrsten Sinne unerhörte Geschichte vorlas, die das Literaturfestival mit finanzkräftiger Unterstützung der RAG-Stiftung bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Es sollte, passend zum Ende der Kohle im Revier, etwas über „Abschied und Aufbruch“ sein, und dass ein echter Kehlmann dabei herauskam, belegt schon die Tatsache, dass die Geschichte als Rückblick aus dem 4. Jahrtausend erzählt wird: „Ich sehe immer wieder gerne Science Fiction“, seufzte Kehlmann – „und werde immer wieder enttäuscht, wie konventionell, wie uninteressant das Genre ausgestaltet wird.“

Den rund 300 Zuhörern wurde allerdings erst im Laufe der Erzählung unter dem Titel „Die Nachricht“ klar, dass es sich um die Erinnerung einer künstlichen Intelligenz an die Zeit handelt, in der es noch „kohlenstoffbasierte Menschen“ gab. Die Nachricht, die über alle Kanäle „der damals noch verbreiteten sozialen Medien“ um die Welt ging, war: Es gab ein Signal von außerirdischen Wesen, das aus 11.200 Lichtjahren Entfernung kam – und das eine derartige Unruhe unter den Menschen auslöste, dass es neben dem zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg auch zum Mitteldeutschen und zum chinesisch-amerikanischen Krieg kam.

Dabei war die Angst vor Außerirdischen völlig irrational: Eine Antwort auf die Nachricht hätte schließlich noch einmal 11.200 Jahre gebraucht, um bis zu den Außerirdischen vorzudringen – die wiederum nach 22.400 Jahren vielleicht gar nicht mehr existierten. Oder noch einmal 11.200 Jahre bis zur Erde bräuchten, selbst wenn sie sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen könnten.

Rückschau auf menschliche Spezies

In dieser unvernünftig-unruhigen Zeit auf der Erde entwickelt allerdings die künstliche Intelligenz allmählich ein Bewusstsein, wird den Menschen immer überlegener und sieht sich irgendwann gezwungen, die ,„kohlenstoffbasierten Menschen“ aussterben zu lassen. Denn: „Ständig waren sie wütend“, was vielleicht an ihrer Sterblichkeit lag, vermutet die künstliche Intelligenz – und ihr auf Dauer angesichts der Existenz von Nuklearwaffen viel zu gefährlich erschien, genau wie die Umweltverschmutzung.

Die Geschichte, kokettierte Kehlmann nach ihrer Verlesung, sei „hoffentlich keine Themaverfehlung“ – bei dem anderen Eröffnungsgast der Lit.Ruhr hätte er allerdings hören können, wie realistisch sie war: Joschka Fischer legte vor rund 700 Zuhörern in der Zollverein-Halle 5 dar, dass sich das Zentrum der Weltpolitik derzeit vom Atlantik zum Pazifik verlagere, China und die USA seien „die prägenden Mächte des 21. Jahrhunderts. Aber was wird aus Europa, eingeklemmt zwischen den beiden?“ Die Basistrends der Geschichte, einschließlich der Bevölkerungsentwicklung, so Fischer, liefen „zu unseren Ungunsten. Ob Europa noch gelingt, das ist die entscheidende Frage.“ Die Welt wird eben immer wieder einmal neu vermessen.