Gelsenkirchen. . Zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag hob das „Musiktheater im Revier“ nun „Mass“ auf die Bühne. Das Publikum feierte das Großprojekt begeistert.

Leonard Bernsteins „Mass“ gehört zu den zentralen Werken seines Schaffens und ist doch selten auf der Opernbühne zu sehen. Ein musikalisch und ideell zersplittertes Werk, das einen tiefen Einblick in Bernsteins Gefühlslage um 1970 freisetzt.

Erschüttert vom Vietnam-Krieg, beeinflusst von den Protesten der späten 60er, stellt Bernstein in „Mass“ den lateinischen Mess-Text, mit tiefer Skepsis und leiser Zuversicht, zur Diskussion. Auf den ersten Blick kein Stoff für ein Bühnenwerk. Doch die Neuproduktion des Musiktheaters im Revier (MiR), deren Premiere zum Saisonstart begeisterte Zustimmung gefunden hat, zeigt, wie geschickt Bernstein selbst ein solch spirituell gefärbtes Thema bühnenwirksam aufbereiten konnte. Sie zeigt freilich auch die Grenzen und Tücken einer theatralischen Darstellung des Stoffs.

Was in Gelsenkirchens Oper herausragt, ist die Bereitschaft des gesamten Ensembles, sich voll in den Dienst einer Gemeinschaftsleistung zu stellen, die trotz vieler Solo-Rollen niemandem Raum für exponierte Selbstdarstellung lässt. Dabei hat das MiR nicht weniger als den erweiterten Opernchor, den vorzüglichen Knabenchor der Chorakademie Dortmund, die Neue Philharmonie Westfalen, das Ballett-Ensemble und eine fünfköpfige Jazz-Rock-Band aufzubieten. Da tummeln sich gut 180 Personen auf der Bühne! Der Chor ist aufgeteilt in Gottesdienstbesucher und einen „Street Chorus“, der die liturgischen Texte mit Zweifeln in Frage stellt, so dass die Gemeinde und selbst der fromme „Celebrant“, der den Gottesdienst zu organisieren versucht, in Gewissensnot geraten. Ein Gottesdienst, der eher Distanz als Nähe zu Gott schafft.

Bernstein greift dafür tief in die Kiste des musikalischen Stil-Reservoirs von altertümlichen Kirchengesängen über Jazz- und Soul-Anleihen bis hin zu frei tonalen Klängen und Zwölfton-Sequenzen. Bunter als in diesem Gemisch aus Oratorium, Oper und Musical geht es nicht. Und wenn ein versierter Choreograf wie Richard Siegal Regie führt, verwundert es nicht, dass der Tanz einen besonderen Stellenwert einnimmt. Allerdings scheint Siegal das Werk vor allem als Folie für wirksame Tanzeinlagen und Massenszenen zu sehen, während die spirituelle Aussage relativ unscharf bleibt. Auch die nüchternen, lamellenartigen Holzwände von Stefan Mayer gehen tieferen sakralen Bezügen aus dem Weg. Von Bernsteins Vorstellung, die Bühne vom Zuschauerraum bis zum Altar als räumlichen Höhepunkt stufenartig anzulegen, rücken Siegal und Mayer mit ihrer ebenerdigen Lösung ab. Das Ganze erinnert eher an ein turbulentes Volksfest mit einigen zweifelnden Störern und massivem Stimmungsumschwung.

Eine Schwachstelle bleibt der Schluss des Werks, was auch die ambitionierten Gelsenkirchener Akteure nicht abmildern können. Der Celebrant, mit niemand Geringerem als dem Musical-Star Henrik Wager besetzt, brütet seine Verzweiflung in einem großen, pathetisch dick aufgetragenen Monolog aus, dem eigentlich eine rigorose Abkehr von Gott und der Kirche folgen müsste. Bernstein lässt aber noch einen Knabensopran mit einem geradezu kitschig-süßen Lobgesang auftreten, auch wenn Jonas Finkemeyer vom Knabenchor der Dortmunder Chorakademie so glockenklare und blitzsauber intonierte Töne anschlägt, wie man sie selbst von manchem Profi nicht immer hören kann.

Enorme Gesamtleistung

Als Stärke der Produktion erweist sich die homogene Gesamtleistung nahezu aller Kräfte des Hauses. Generalmusikdirektor Rasmus Baumann hat alle Hände voll zu tun, das Orchester, mehrere verteilte Instrumentalgruppen und den großen Chor zusammenzuhalten, was ihm mühelos gelang.

Standing Ovations für eine ambitionierte Wiedergabe eines schwierigen Stücks, das in Gelsenkirchen vor allem durch seine vitale Umsetzung gefällt, während die religiös-spirituellen Dimensionen eher zu kurz kommen.