Essen. Der Nachwuchs schreit vor Schmerz: In die Notaufnahme oder nicht? Wenn Eltern-Sorge Hysterie wird. Zwei Ärzte geben Rat.
Das Schreien wollte einfach nicht aufhören. Und ganz rot angelaufen war er auch. „Was hat er nur?“, dachten sich Ulla Swehla (44) und ihr damaliger Ehemann, als ihr erster gemeinsamer Sohn Nikolas vor scheinbaren Qualen keine Nachtruhe finden konnte. Damals war der heute 19-jährige Nikolas wenige Wochen alt. Die besorgten Eltern waren hilflos. „Da stimmt doch was nicht“, grübelte der Vater. „Lass uns zum Arzt fahren“ – Ulla Swehla wollte abwarten. „Aber so standhaft bleiben konnte ich dann auch nicht. Also sind wir losgefahren.“
Doch als die damaligen Münsteraner durch die Stadt eilten, war Nikolas prompt im Autositz eingeschlafen. „Trotzdem sind wir weiter zum Krankenhaus gefahren“, erinnert sich Swehla. „Der Arzt konnte dann nichts feststellen.“ Inzwischen reflektiert die Mutter von vier Söhnen (5, 10, 12, 19) ihr damaliges Verhalten als etwas hysterisch. „Ich vertraue seitdem noch mehr auf mein eigenes Gespür“, sagt die 44-Jährige. „Wäre ich alleine mit Nikolas gewesen: Ich wäre zu Hause geblieben.“
Ärzte wollen Eltern die Angst nehmen
Claudio Finetti (49) hat viele Kinder wie Nikolas untersucht. Der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Elisabeth-Krankenhaus Essen empfängt immer wieder verängstigte Eltern, die mit einem eigentlich gesunden Kind in der Notaufnahme erscheinen oder versäumt haben, zu den Öffnungszeiten der Kinderarztpraxen beim Hausarzt vorzusprechen. Verärgert wäre er darüber nie. „Jeder, der sich hier vorstellt, wird als Notfall betrachtet. Die Eltern haben eben Angst und wollen einen Arzt sehen“, sagt Finetti. „Es ist enorm wichtig, dass man die Eltern immer ernst nimmt.“
Zwar sind viele Notaufnahmen überlastet – laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) waren nur sechs von zehn Notaufnahme-Patienten tatsächlich auch Notfälle, weshalb die Kassenärztlichen Vereinigungen bereits Patientengebühren für die Notaufnahme ins Gespräch gebracht haben. Allerdings findet Finetti, dass sich Eltern von derartigen Statistiken nicht beirren lassen sollten. „Selbst wenn man den Eltern nur ihre Angst nimmt und sie ohne Sorgen durch die Nacht bringt: Dann ist ein wichtiges Ziel erreicht. Das ist unser Job.“ Zentral sei, den Eltern selbstbewusst zu begegnen: „Wie viel Sorgen sich Eltern machen, kommt darauf an, wie man im Erstkontakt als Arzt auftritt. Der erste Eindruck hat keine zweite Chance.“
Schock-Erfahrungen aus Internetforen könnten Eltern beeinflussen
Obwohl Finetti nie davor warnen würde, dass zu viele Patienten in die Notaufnahme stürmen, kann er die Ergebnisse der Studie aus eigener Erfahrung unterstreichen. „Ich habe den Eindruck, dass schneller ein Arzt aufgesucht wird als früher“, sagt er. „Entweder vertraut man uns mehr als früher oder es gibt nicht mehr diese starken Familienbündnisse, bei denen man als erstes den Rat der Großeltern sucht.“ Gut möglich sei, dass viele Eltern zu sehr von Schock-Erfahrungen aus Internetforen beeinflusst seien und deshalb direkt einen Arzt aufsuchen würden.
„Aber dass es insgesamt mehr Helikopter-Eltern als früher gibt, das würde ich nicht sagen“, sagt der Chefarzt. Eltern, die mit fertigen Diagnosen beim Kinderarzt erscheinen, kennt Finetti kaum aus dem Alltag. Ein Problem sei höchstens, dass manche Eltern verlangen würden, ein Antibiotikum zu verschreiben. „Und das, obwohl man als Arzt den Verdacht hat, dass es sich um einen Virus handelt.“
„Was würden Sie tun, wenn es ihr Kind wäre?“
Ulla Swehla kennt das Antibiotika-Problem aus anderer Sicht. „Manchmal wurde eines meiner Kinder nur angesehen und gleich ein Antibiotikum verschrieben“, erzählt die Wahl-Essenerin. Generell erlebe sie, dass manch ein Arzt die Kinder – gerade in der Notaufnahme – „wie am Fließband“ abarbeite. „Ich habe Vertrauen in Ärzte, aber manchmal bekommt man keine Hilfe“, beklagt sie. „Den Arzt frage ich deswegen manchmal: Was würden Sie tun, wenn es ihr Kind wäre?“
Beim zweifachen Vater Claudio Finetti würde sie mit dieser Frage genau ins Schwarze treffen. Er gibt zu, den nüchtern-medizinischen Blick in der Vaterrolle gelegentlich abzulegen. „Aus ärztlicher Sicht ist ein Notfall etwas ganz anderes als aus elterlicher Sicht“, sagt er. „Als Arzt muss man sich große Sorgen machen, wenn man das Fieber mit den gängigen Mitteln nicht gesenkt bekommt, wenn das Kind keine Luft mehr kriegt oder einen Fieberkrampf hat.“ Auch Verbrühungen und epileptische Anfälle zählt Finetti zu akuten Notfallsituationen. „Als Elternteil ist das noch viel weiter zu fassen. Wenn mein Kind noch nie gefiebert hat und plötzlich 39 Grad hat, darf ich mir als Vater Sorgen machen.“
Eltern müssen Kinder richtig kennenlernen
Schließlich muss jedes junge Elternteil sein Kind erst einmal richtig kennenlernen, auch in Extremsituationen. „Und dazu gehört zu erfahren, wie der Körper des Kindes mit Fieber umgeht“, sagt Finetti. „Manch ein Kind will bei 38,5 Grad nicht mehr trinken, ist apathisch. Andere spielen mit 40 Grad weiter.“ In solchen Fällen könne man das Kind sogar fiebern lassen. „Dann kann es kontraproduktiv sein, dass Fieber zu senken. Schließlich erhitzt der Körper dann, wenn er selbst gegen Viren oder Bakterien ankämpft.“ Wichtig sei nur, dem fiebernden Kind viel Flüssigkeit zu geben. „Und je kleiner das Kind ist, umso vorsichtiger sollte man sein.“
Auch Kinder mit Erbrechen und Erkältungssymptomen landen oft in der Notaufnahme. Und jene, die gestürzt sind. „Warnsignale für eine Gehirnerschütterung sind Bewusstseinsstörungen und Erbrechen“, sagt Finetti. Wenn das Kind sich nach dem Sturz normal verhalte, müsse kein Arzt aufgesucht werden. „Wie sich ein Kind üblicherweise verhält, wissen die Eltern am besten. Sie sind Experten für ihre Kinder.“
Das sieht auch Ulla Swehla so, die auch Grundschullehrerin in Essen-Katernberg ist. Erfahrung mit Helikopter-Eltern hat auch die 44-Jährige hier kaum gemacht. „Möglicherweise ist das in anderen Stadtgebieten anders“, sagt sie. Die Meinung der Eltern versucht sie ernst zu nehmen. „Wenn ein Schüler über Kopfschmerzen klagt, rufe ich häufig die Eltern an. Sie wissen am besten, wie das bei ihrem Kind einzuschätzen ist.“ Ob ihre Sorgen berechtigt sind, das sollte man die Eltern also am besten selbst entscheiden lassen.
>>> „Wir werden bespuckt und beleidigt“
Drei Fragen an Dirk Straub, niedergelassener Kinderarzt in Essen:
1 Die Notaufnahme in den Krankenhäusern ist in vielen Städten nicht die erste Station für Eltern, die in der Nacht oder am Wochenende einen Kinderarzt benötigen. Häufig gibt es Notfallpraxen der niedergelassenen Kinderärzte. Wenn Sie Dienst in der Notfallpraxis haben, die am Elisabeth-Krankenhaus Essen zu finden ist: Mit was für Sorgen kommen die Eltern?
Die Krankheitsbilder in der Notfallpraxis ähneln denen des Praxisalltags. Am häufigsten sind Infekte der oberen Atemwege und des Magen-Darm-Traktes mit und ohne Fieber Anlass für einen Besuch. Häufig sehen wir auch Kinder mit unklaren Hautausschlägen, Bauchschmerzen sowie Säuglinge mit unklaren Schreiattacken. Aber auch Insektenstiche, Verletzungen nach Stürzen, Verbrühungen und Asthmaanfälle werden häufig bei uns in der Notfallpraxis vorgestellt.
2 Oft gibt es lange Wartezeiten in der Notfallpraxis. Kommt es deshalb zu Auseinandersetzungen mit Eltern?
Die meisten Eltern im Notdienst sind sehr freundlich. Leider beobachten wir in den letzten Jahren zunehmend auch Eltern, die uns Ärzten und vor allem unseren medizinischen Fachangestellten gegenüber jeglichen Respekt vermissen lassen. Wir werden häufig beschimpft und beleidigt, wenn wir nur ein Privatrezept bei fehlendem Versicherungsnachweis ausstellen oder bei leichten Infekten gar keine Medikamente verordnen. Auch kommt es leider vermehrt zu körperlichen Übergriffen, wir wurden bereits bespuckt und mit Nierenschalen beworfen, es werden uns Schläge und Anzeigen angedroht. Bereits mehrfach musste der Sicherheitsdienst des Elisabeth- Krankenhauses zu Hilfe gerufen werden. Das betrübt uns natürlich sehr.
3 Die jungen Patienten werden nicht nach Wartezeit, sondern nach Dringlichkeit behandelt. Was sind dringende Fälle? Und wann sollte man sich eher aufs längere Warten einstellen?
Zu wirklichen Notfällen gehören alle lebensgefährlichen Erkrankungen wie Gehirnhautentzündungen, Krampfanfälle, aber auch schwere Verbrühungen und Verbrennungen. Diese Patienten genießen immer absoluten Vorzug! Ansonsten entscheiden wir spontan, welche Patienten einer dringlicheren Behandlung bedürfen. Längere Wartezeiten gibt es meist in der Herbst- und Winterzeit, wo wir am Wochenende auch mal 300 bis 400 Patienten sehen. Dann sollten sich Eltern überlegen, ob das Kind vielleicht besser am nächsten Tag in der Kinderarztpraxis vorgestellt werden kann.