Gelsenkirchen. . Von Dauer ist nur Vergänglichkeit: Applaus für Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ in Gelsenkirchens Musiktheater im Revier.

Die Schauspieler werden vom Hausmeister (souverän verschmitzt: Marc Bodnar) hineingerollt in den abgewetzten Musentempel, einer nach dem anderen. Manche sind in Luftpolsterfolie verpackt, andere in Filzdecken verschnürt oder in massiv-hölzerne Transportkisten gesperrt. Sie werden singen an diesem Abend, mal flüsterleise, mal ungebremst, mal in ergreifender Mezzosopranschönheit wie Tora Augestad. Aber fast genauso oft und genauso variantenreich stellen sich Hindernisse in den Weg.

An den Wänden grauen die Schatten abgehängter Bilder vor sich hin, auf dem Boden helle Flächen, wie sie von weggerückten Möbeln hinterlassen werden. Ein Ambiente, wie man es auch im Revier von der Bühnenwelterbauerin Anna Viebrock kennt, seit sie mit Christoph Marthaler in der allerersten Ruhrtriennale-Saison 2002 den Schubert-Abend „Die schöne Müllerin“ im stillgelegte Dortmunder Hüttenwerk Phoenix West rostmodern heruntergedimmt hat.

Abschied von der Berliner Volksbühne

Es ist exakt das Ambiente und beinahe exakt die Inszenierung, mit der Christoph Marthaler im Herbst 2016 seinen Abschied von der Berliner Castorf-Volksbühne zelebrierte. Nun ist sie in wundersamer Verkehrung als Marthalers zweiter Wurf seiner ersten Saison als „Artiste associé“ der aktuellen Ruhrtriennale im Musiktheater an der Ruhr zu erleben.

Jenseits der Lieder wird es ein weitgehend stummer Abend bleiben, der keine durchgehende Geschichte erzählt, sondern Szenen voller Melancholie und Witz aneinanderreiht. Hin und wieder fallen dann doch Sätze wie „Der liebe Gott kann froh sein, wenn es ihn nicht gibt“. Die ältere Dame, die man im Abendkleid sitzend in einen umhergeschobenen Harfenkasten gepfercht hat, faucht, als die Kiste aufgeht und die Blicke des Publikums auf sie treffen: „Ich hasse diese Wanderausstellungen!“

Widerhaken gegen den Unterhaltungskonsum

Dafür gibt es ein amüsantes, grandios choreografiertes Erotik-Kampf-Ballett oder und hin und wieder einen Widerhaken gegen den kultivierten Unterhaltungskonsum wie die Musiker, die aus Hundenäpfen fressen. Und dann wieder Szenen wie aus dem täglichen Wahnsinn des Probenbetriebs, wenn ein Handwerker mit dem Bohrschrauber, unbeeindruckt vom Musiker an den Tasten, sein Gerät röhren lässt und in den Tiefen des Instruments nicht nur Holzfragmente findet, sondern auch ein Würstchen mit Senf, das umgehend verzehrt wird.

Immer wieder kommen die Schauspieler, in Mode der 70er-, 60er, 50er- oder 10er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewandet, mit Stühlen auf die Bühne. So stimmen sie dann „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit...“ an, ganz sacht, ganz sanft und leise, völlig unpathetisch. Und zwar als bürgerliche Individuen, weshalb auch ihre Namen auf den Stuhllehnen stehen – freilich nur auf Klebeband gekritzelt, das jederzeit entfernt werden kann...

Marthaler, wie nur Marthaler ihn kann

Musik von Bach, Mozart und Schönberg erklingt von Klavieren und Spinett (zu der wunderbar hohen Stimme von Jürg Kienberger), aber auch Schlager oder Mahlers „Ich bin aus tiefem Traum erwacht“. Und wenn sie dann alle ein „Kyrie eleision“ mehr hauchen, raunen, wispern als singen, dann erlebt auch das Revier einen Marthaler, wie nur Marthaler ihn kann, weil er leise, langsam und mit viel Ironie im Beschwören des Vergänglichen eine Dauerhaftigkeit erreicht, die vielen Bühnenkünstlern verwehrt bleibt. Großer Premierenbeifall für Mimen und Regieteam.

Weitere Aufführungen: 1. September (20 Uhr) sowie 2. September (18 Uhr).