Vor 100 Jahren wurde der Dirigent, Komponist, Pianist, Lehrer, Autor und TV-Star Leonard Bernstein geboren. Eine Würdigung.

„Mein Sohn ein Klesmer – ein armseliger Bettelmusikant? Nie und nimmer!“ Harte, verständnislose Worte, mit denen Samuel Bernstein seinen Sohn Louis, der sich mit 16 Jahren in Leonard umbenannte, vor einer brotlosen Musikerkarriere schützen wollte. Dass Leonard Bernstein, der am 25. August vor 100 Jahren geboren wurde, einer der erfolgreichsten und berühmtesten Musiker des 20. Jahrhunderts werden sollte, konnte der Vater nicht ahnen. Aus dem schroffen Verbot sprach die Sorge eines Vaters, der die Armut kannte. Die Familie kann auf eine lange Rabbiner-Tradition in der Ukraine zurückblicken. Shmuel alias Samuel Bernstein lebte in einem von den Russen geduldeten „Shtetl“, in dem sich die jüdischen Bewohner zunehmender Bedrohung ausgesetzt sahen. 1908 entschied sich Samuel, die Heimat zu verlassen und trat eine beschwerliche Reise nach Amerika an. Samuel kämpfte als Tagelöhner auf dem Fischmarkt ums Überleben, fand letztlich eine Anstellung im Friseurladen eines Onkels und gründete mit viel Ehrgeiz und Erfolg eine eigene kleine Firma, die „Samuel Bernstein Hair Company“. 1918 kam sein erstes Kind Louis zur Welt, das schon früh „Lenny“ gerufen wurde. Ein kränklicher, von Asthma und Allergien geplagter Knabe, der die Firma übernehmen sollte, sich jedoch stets zu allem hingezogen fühlte, was mit Musik zu tun hatte. Als eine Tante, die von Boston nach New York umzog, ihr altes Klavier den Bernsteins überließ, war es um den Zehnjährigen geschehen. Nach eigenen Bekenntnissen spürte er, wenn er zunächst autodidaktisch auf dem Klavier improvisierte, Energien in sich wachsen, die ihn seine Beschwerden vergessen ließen. Ein Tag ohne Musik wäre für ihn so undenkbar gewesen wie ein Tag ohne Atemluft, bekannte er später: „Musik ist für mich wie ein Liebesakt.“

Und zwar ein lebenslanger, bis zu seinem Tod am 14. Oktober 1990. Das bedeutet Glück, kostet aber auch Kraft. Zumal Leonard Bernstein mit einem ganzen Füllhorn an Talenten gesegnet war. Mit seinen vielfältigen Karrieren als Komponist, Dirigent, Pianist, Lehrer, Schriftsteller, TV-Moderator und Humanist nahm er eine Alleinstellung im letzten Jahrhundert ein.

Die Talente wurden ihm geschenkt, doch die Erfolge musste er sich hart erarbeiten. Einen Dollar pro Klavierstunde war der Vater bereit, für den Klavierunterricht zu zahlen. Als „Lenny“ seine erste Lehrerin nach einem Jahr überflügelte, wechselte er zu einem Lehrer, der drei Dollar verlangte, die der Junge teilweise selbst aufbringen musste.

1939 legte er in Harvard sein Examen ab, Dimitri Mitropoulos empfahl dem jungen Mann, Dirigent zu werden. Bernstein folgte der Empfehlung. Mitropoulos hat er zwei weitere „Geschenke“ zu verdanken: Seine lebenslange Liebe zur 2. Symphonie Robert Schumanns – und die bis dahin ungewöhnliche Praxis, als Solist das Orchester vom Klavier aus zu leiten.

In Philadelphia traf Bernstein auf zwei Dirigenten-Koryphäen, die seinen weiteren Lebenslauf als Dirigent bestimmen sollten. Fritz Reiner, der ihm das nötige Handwerk beibrachte, und Sergej Koussevitzky, der mit väterlicher Wärme die Karriere förderte.

Leidenschaftlicher Einsatz für Mendelssohn und Mahler

Leonard Bernstein sollte der erste global wirklich bedeutende Dirigent werden, der in Amerika das Licht der Welt erblickte und der mit einer angeborenen Selbstverständlichkeit alle musikalischen Einflüsse von Bach bis zum Jazz in sich aufsog. Mehrfach erhielt er den Rat, seinen Namen zu ändern: „Mit dem Namen Bernstein können Sie in Amerika keine Karriere machen.“ Doch Bernstein blieb Bernstein, konvertierte auch nicht zum christlichen Glauben. Anders als Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler. Zwei Komponisten, denen sich Bernstein geradezu seelenverwandt fühlte und für die er sich leidenschaftlich einsetzte.

Das Tanglewood Festival in der Nähe von Boston wurde sein Sprungbrett, Artur Rodzinski engagierte ihn 1943 als Assistenten bei den New Yorker Philharmonikern. Der 14. November 1943 wurde zu einem Schicksalstag. Bruno Walter musste ein landesweit übertragenes Nachmittagskonzert des New York Symphony Orchestras in der Carnegie Hall krankheitsbedingt absagen. Bernstein war gerade einmal 25 Jahre alt, wurde von Rodzinski wenige Stunden vor dem Konzert benachrichtigt, trat, völlig übernächtigt, ohne Probe ans Pult – und siegte auf ganzer Länge.

Er eckte an, erregte Widerspruch, ließ niemanden unberührt

1945 wurde er Chefdirigent des New York City Symphony Orchestras, 1958 ernannten ihn die New Yorker Philharmoniker zu ihrem Musikdirektor. Bernstein, damals vierzig Jahre alt, war damit der erste in den USA geborene und ausgebildete Musiker, der in eine der Spitzenpositionen des nordamerikanischen Musiklebens berufen wurde. Im Laufe einer zwölfjährigen Erfolgs-Arbeit dirigierte Bernstein mehr Aufführungen des Orchesters als alle seine Amtsvorgänger.

Für Bernstein war es Ehrensache, dass er noch vor Gründung des Staates 1948 unter gefährlichen Umständen auf palästinischem Terrain musizierte. Eine zweite Heimat fand er bei den Wiener Philharmonikern, für Bernstein die Garanten der großen europäischen Musiktradition. Es war nicht einfach, die Musiker von der Bedeutung Gustav Mahlers zu überzeugen, dessen Werk er mit den New Yorker Philharmonikern zu großer Popularität verholfen hat. Dabei blieb er ein interessierter, aber nicht aktiv eingreifender Beobachter der Avantgarde um Cage und Boulez.

Es ist kaum vorstellbar, woher Bernstein die Kräfte bezog, neben der unermüdlichen Reisetätigkeit mit seinen Orchestern durch alle Kontinente noch ein riesiges Œuvre als Komponist zu hinterlassen. Bernstein begann mit anspruchsvollen symphonischen Werken mit jüdischem Bekenntnisgehalt. Die relativ späte Beschäftigung mit Songs führte zu Bühnenwerken, in denen die Grenze zwischen Musical und Oper nicht immer scharf zu ziehen ist. Sein größter Erfolg, die „West Side Story“, steht sowohl im dramaturgischen Aufbau wie auch in der symphonischen musikalischen Textur der Oper näher als den üblichen Broadway-Musicals; der aktualisierte „Romeo und Julia“-Stoff spiegelt Bernsteins antirassistische Einstellung und seinen Unmut über die Vernachlässigung und Diskriminierung der nichtweißen Jugend Amerikas wieder.

Seinen Einsatz für Toleranz und Freiheit unterstrich er noch ein Jahr vor seinem Tod, als er zum Berliner Mauerfall mit einer Aufführung von Beetho­vens „Neunter“ ein Signal setzte. Den Freudenhymnus des Schlusssatzes ersetzte er durch ein Lied an die „Freiheit“, so wie es Schiller ursprünglich beabsichtigte.

Vor 28 Jahren ist Leonard Bernstein gestorben. Jahre, die zeigen, dass uns eine so knorrige, unbeugsame, charismatische und begeisterungsfähige Persön­lichkeit fehlt. Geradlinig verlief nichts im beruflichen und privaten Leben des Multi­talents. Er eckte an, erregte Widerspruch, ließ aber niemanden unberührt. Man spürte, dass Musik für ihn ein Liebes- und ein Lebenselixier gewesen ist. Und ein „Klesmer“ ist er immer geblieben. Wenn auch kein Bettelmusikant.