Essen. Sommerzeit ist Lesezeit: Wir stellen die schönsten Romane, Krimis und Erzählbände für die Sommerferien vor.

„Ich war noch nicht überall“, soll einst die begnadete amerikanische Essayistin Susan Sontag gesagt haben, „aber es steht auf meiner Liste.“ Dabei ist Überallsein ganz leicht: Den Literaturisten trennt nur ein Buchdeckel vom Sehnsuchtsziel. Wir geben seitenweise Gedankenreisetipps – zum Mitnehmen oder Daheimlesen.

Frankreich

Das Périgord ist Heimat von Bruno, Chef de Police – und das schon seit zehn Jahren. Im Jubiläumsband „Revanche“ (Diogenes, 416 S., 24 €) holt der Schotte Martin Walker einmal mehr Weltpolitik und Historie in den beschaulichen Landstrich. Doch nicht nur die Geschichte Jerusalems und aktuelle Religionskonflikte, sondern auch die Pariser Kollegin Amélie lenken Bruno ab vom Mittagsmenü in Ivans Bistro. Schade für Bruno, gut für die Leser.

Niederlande

Bitterböse, doppelbödig und stets unterhaltsam: Herman Koch gilt seit seinem Erfolg „Angerichtet“ als Experte für Figuren, die sich in der eigenen, von jeder Realität abgekoppelten Gedankenwelt heillos verirren. So auch Robert Walter, Amsterdams Bürgermeister. Beim Neujahrsempfang meint Walter, seine Ehefrau würde flirten – ausgerechnet mit seinem ärgsten Widersacher. Die Ehefrau stammt aus einem nicht näher benannten Ausland, was noch wichtig wird, denn ohnehin fühlt Walter sich in der eigenen Stadt zunehmend überfremdet: „Der Graben“ (Kiepenheuer&Witsch, 304 S., 20 €) aber existiert vor allem in seinem Kopf. Ein echter Koch – exzellent!

England

Ein Sommertag im ländlichen Nachkriegs-England, ein Jahrmarkt, eine bunte Schar Einheimischer – und ein Fremder mit mörderischen Absichten: Dieser Roman von J.L. Carr (1912-1994) erschien bereits 1963 und erzählt doch auf höchst moderne Weise, wie Krieg, Verlust und Trauer die Lebensweichen neu stellen. Im Stil von Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ erschafft Carr einen Reigen und Personen, die mit wenigen Sätzen lebendig werden. Man wünschte, „Ein Tag im Sommer“ (Dumont, 304 S., 22 €) würde nie enden.

Spanien

Die eine stammt aus Barcelona, die andere aus Bochum, die eine schreibt auf Spanisch, die andere auf Deutsch: und gemeinsam gelang Rosa Ribas & Sabine Hofmann eine spannende Krimi-Trilogie, die ins Barcelona zur Zeit der Franco-Diktatur führt. Düsternis und Gewisper sind auch im dritten und letzten Teil „Auf der anderen Seite der Ramblas“ (Kindler, 352 S., 19,95 €) eingewoben. Einmal mehr ermittelt die Journalistin Ana Martí an der Seite des Kommissars Isidro Castro, diesmal im Hafenkneipen-Milieu. Dunkle Spannung auch für jene, die diese Reihe erst kennenlernen.

Italien

Zwanzig! So viele Fälle hat Andrea Camilleri seinen Commissario Montalbano bereits lösen lassen. Der Band „Eine Stimme in der Nacht“ (Lübbe, 272 S., 22€) setzt einmal mehr auf die Verbindung von solider Spannungskost und sizilianischem Sommerflair. Dieser Krimi ist perfekt für Leser mit einer Vorliebe für die Vertrautheit alter Urlaubsorte.

Deutschland

„Sie kommen auch noch aus der Zeit des Rauchens“: Mit diesem Satz, beiläufig am Bahnhofskneipentresen geäußert, sind die Erzählungen, die Clemens Meyer in „Die stillen Trabanten“ (S. Fischer, 227 S., 20 €) versammelt, kürzestmöglich beschrieben. Hier geht es um Menschen, die abgehängt wurden, an den Rand gerieten. Und um Orte, an denen wir auf unseren Fahrten ins Urlaubsparadies höchstens vorbeirauschen. Doch selbst hier blitzt ein Funke auf – Freundschaft, Hoffnung. Oder: das Glimmen einer Zigarette.

Skandinavien

Die Abiturientin Lempi hilft im Laden ihres Vaters aus, der junge Bauernsohn Viljami kauft ein: „Es ging schnell. Zwei Briefe, schon wolltest du die Frau an meiner Seite werden“. Nur kommt dann der Krieg über Lappland und Rovaniemi, wird Viljami eingezogen, geht Lempis Zwillingsschwester mit einem Wehrmachtsoffizier nach Deutschland – und plötzlich ist Lempi verschwunden. Aus drei Perspektiven kreist die Finnin Minna Rytisalo in „Lempi – das heißt Liebe“ (Hanser, 224 S., 21 €) um dieses Verschwinden. So poetisch wie geschichtssatt holt sie einen Landstrich am Rande Europas und eine ferne Zeit ganz nah heran.

Nordamerika

In der Urlaubsruhe liegt die Kraft, Lebenszeit neu zu überdenken – verbleibende, dahingegangene. US-Schriftsteller Denis Johnson, der im vergangenen Jahr mit 67 Jahren an Krebs starb, hinterlässt mit dem Erzählband „Die Großzügigkeit der Meerjungfrau“ (Rowohlt, 224 S., 24 €) sechs Reflexionen über Leben und Tod und sechs Antihelden in den besten, aber leider letzten Jahren. Klingt traurig, ist aber höchst belebend: bissig und wütend, leise und zart.

Lateinamerika

Die eigenen vier Wände sind der sicherste Rückzugsort; hier gewähren wir nur Menschen Zutritt, denen wir vertrauen. Oder? Argentinien ist ein Land mit Diktatur-Hintergrund, und die innere Unsicherheit, die daraus folgt, begegnet uns im magischen Experimentierwerk von Samantha Schweblin. 1978 in Buenos Aires geboren, studierte sie dort zunächst Filmwissenschaften und lebt heute in Berlin. Ihr jüngster Erzählungsband „Sieben leere Häuser“ (Suhrkamp, 150 S., 20 €) kündet von Einbrüchen ins Innerste. Von Menschen, die in fremde Häuser, fremde Leben eindringen. Vom Verlust der Dinge und vom Verlust der Erinnerung an die Dinge. Ihre Stories versammeln Szenen, die David Lynch gedreht haben könnte – bestens geeignet für die sommerwarme Abenddämmerung.

Weltumspannend

Ein Zopf, das sind drei inein­ander verflochtene Stränge. Auch Laetitia Colombanis Roman „Der Zopf“ (S. Fischer, 288 S., 20 € ) erzählt drei Geschichten, deren Verflechtungen rasch offenbar werden: In Indien schickt eine Unberührbare ihre Tochter auf die Schule – und opfert ihre Haare, um Vishnu gnädig zu stimmen. In Sizilien will eine junge Erbin die Perückenfabrik ihres Vaters retten. In Kanada erkrankt eine alleinerziehende Mutter an Krebs. Drei Frauenschicksale, dreimal Aufruhr: Inhaltlich ist Colombani auf Krawall gebürstet, stilistisch kommt ihr Roman aber seidig glatt und gefällig daher.