Essen. . Pianist Kit Armstrong (26) über seine Liebe zur Naturwissenschaft, selbstspielende Klaviere und eine Demut auch vor sich selbst.

Wunderkind, Genie, Jahrhundertbegabung: Zahlreich sind die Superlative, die Kit Armstrong (26) seit früher Kindheit begleiten. Musikalisch hat der Pianist seinen Ritterschlag von seinem Mentor Alfred Brendel erhalten – mit dessen Cello-spielendem Sohn Adrian und dem Geiger Andrej Bielow kommt Armstrong nun für einen Trio-Abend nach Mülheim. Christoph Forsthoff hat Kit Armstrong getroffen und mit ihm über seine Leidenschaft für Physik und Mathematik, über Demut, Kirchen und selbst spielende Klaviere gesprochen.

In Mülheim greifen Sie selbst in die Tasten – jüngst haben Sie an einem Konzert mitgewirkt, in dem ein Flügel mittels eines Selbstspielsystems die eigentlich unspielbaren „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow spielte. Ein bizarres Erlebnis?

Kit Armstrong: Natürlich ist die Idee nicht neu, dass ein Flügel von alleine spielt. Aber so wird einem verdeutlicht, dass es einerseits Musik gibt, die über einen Interpreten vermittelt wird – und andererseits Musik, wo es wirklich darum geht, dass der Komponist ganz direkt mit den Zuhörern kommuniziert.

Empfinden Sie eine gewisse Faszination für solche selbst spielenden Klaviere?

In Sachen Faszination muss man schon differenzieren. Natürlich ist es auf der Ebene der Technik beachtlich, wie gut solch ein System funktioniert, wenn man bedenkt, dass wir Pianisten ab einem gewissen Schwierigkeitsgrad immer auch Glück benötigen…

Inwiefern?

Etwa wenn es um die gleichmäßige Wiederholung von Tönen geht – natürlich gibt es dafür bestimmte Bewegungsmuster und Techniken, aber in der Aufführung braucht es am Ende fürs Gelingen doch etwas Glück. Und dass diese Maschine solche Wiederholungen anscheinend sehr zuverlässig wiedergeben kann, ist schon beachtlich und auch schön anzusehen.

Das Schönste ist eben zuzuschauen, wie jemand, der sein Metier beherrscht, dieses ausübt.

Doch auf einer anderen Ebene geht es natürlich um die Musik. Und da ist es dann auch immer eine Frage der Definition von Musik: Es gibt sicher Menschen, die diese sogenannten Etüden von Nancarrow nicht wirklich für Musik halten – so wie es umgekehrt auch diejenigen gibt, die gerade diese als großartige Erneuerung der abendländischen Musiktradition sehen.

Sie selbst scheinen zumindest eine gewisse Faszination für solche Selbstspielsystem zu haben – kommt da Ihre Leidenschaft als Mathematiker für das dahinter stehende Programm durch?

Das Programm an sich ist ja nicht kreativ, sondern lediglich eine technische Möglichkeit der Musikwiedergabe – dies allerdings mit einer Präzision, die es ermöglicht, die Technik zu vergessen.

Könnten in Zukunft solche Selbstspiel-Computer menschliche Künstler ersetzen?

Weder weiß ich, was die Zukunft der ausgeführten Musik noch die der menschlichen Unterhaltung überhaupt ist. Allerdings haben wir in den letzten Jahrhunderten die Erfahrung gemacht, dass Kunst oft mit einer Persönlichkeit in Verbindung gebracht werden muss, damit sie ein Publikum finden kann. Meines Erachtens wäre es zwar nicht verkehrt zu sagen, dass die Tradition in der klassischen Musik lieber aus Werken bestehen sollte und nicht aus Persönlichkeiten oder Musikern – aber das sieht die Welt offenbar anders…

Klingt da ein verstecktes Plädoyer für Musik von Maschinen statt Menschen durch?

Musik wird nun einmal für Menschen gemacht – und Menschen verbinden nicht allein musikalische Aussagen gern mit anderen Menschen. Selbst in der Mathematik tragen Theoreme ja die Namen berühmter Mathematiker, obwohl es Theoreme sind, die auch Außerirdische hätten entdecken können.

Eben eine zutiefst menschliche Eigenschaft…

…und insofern kann ich auch nicht sagen, ob die Zukunft der Klassik anders aussehen wird als jene Form, wie wir sie heutzutage als Unterhaltung kennen: nämlich dass sie von Menschen gemacht und mit den Gesichtern der Menschen verkauft wird.

Was zumindest den Vorteil hat, dass Sie selbst nicht um Ihren Beruf als Pianist fürchten müssen.

Nun, da muss man sich philosophisch erst einmal die Frage stellen: Braucht der Mensch für seine Existenz Musik aus der Hand von Berufsmusikern? Und da hier die Antwort nur lauten kann, dass wir deren Musik nicht wirklich brauchen, muss man dann auch feststellen: Ein Beruf, wo man etwas produziert, das niemand braucht, kann niemals ein sicherer sein.

Stichwort Ungewissheit: Ihre Musiker-Kollegin Julia Fischer hält den herkömmlichen CD-Markt für tot und will ihre Aufnahmen künftig nur noch auf ihrem eigenen Internetportal anbieten – ein Vorbild auch für Sie?

Das sind Themen, zu denen ich nicht unbedingt ehrlich antworten darf, weil da gewisse geschäftliche Interessen verletzt werden könnten. Aber ohne Zweifel ist die Zukunft des herkömmlichen Tonträgers alles andere als sicher – und rein wirtschaftlich ist das bisherige Modell auch nicht mehr wirklich interessant.

Warum nicht?

Was man verdient, steht nicht mehr im Verhältnis zu dem, was man ausgeben muss, um einen entsprechenden Absatz zu erzielen. Insofern wird sich wahrscheinlich etwas ändern, doch ich bin nicht in einer Position, wo ich das bestimme, bestimmen möchte oder bestimmen kann – und natürlich hängt dies auch von der Einstellung der Konsumenten ab.

Und wie schätzen Sie deren Einstellung ein?

Wenn ich für mich selber spreche, dann habe ich wenig Lust CDs zu kaufen – noch nicht einmal meine eigenen (lacht).

Sie scherzen…

Ich habe einfach viel mehr Freude daran, mir die Noten eines mir unbekannten Stücks zu besorgen und dies selber zu spielen, als mir die Aufnahme eines anderen, mir vielleicht unbekannten Pianisten anzuhören. Anders ist das natürlich bei alten Aufnahmen: Höre ich mir etwa eine alte Aufnahme von Rachmaninow an, lerne ich nicht nur, wie er selbst gespielt hat, sondern dies vermittelt mir auch wesentliche Einblicke in das Wesen seiner Musik.

Das betrifft Sie persönlich – doch warum hat die CD-Branche generell so zu kämpfen?

Erstens schätzen viele Menschen den Live-Eindruck eines Konzertes sehr viel mehr als den einer CD. Zweitens ist schon so viel Musik aufgenommen worden, und viele dieser Aufnahmen sind inzwischen auch unentgeltlich zugängig. Und drittens ist das Angebot dann komischerweise doch ziemlich beschränkt: Möchte ich Stücke oder Interpreten abseits des Mainstreams hören, werde ich bei den CD-Labels in der Regel nicht fündig.

Und was machen Sie dann?

Ich gehe da viel lieber auf Youtube. Denn wie viele Menschen brauche auch ich nicht die neueste Einspielung von Beethovens fünfter Sinfonie von meinen lieben Kollegen. Ich gehe gern zu einem Konzert, gerade wenn eine persönliche Verbindung zu den Künstlern besteht, genieße die Musik und bin glücklich, einen Freund und Menschen zu erleben, den ich sehr schätze. Aber bei CD-Aufnahmen sieht das anders aus.

Während sich Ihre Begeisterung für CDs also in Grenzen hält, pflegen Sie eine ausgeprägte Liebe zu den Naturwissenschaften – woher rührt dieses Faible für Physik und Chemie?

Als Künstler haben wir die Möglichkeit, der Öffentlichkeit zu sagen, was uns wichtig ist. Das ist ein großes Glück und auch eine große Verantwortung, denn wir sind in der Lage, die Welt ein wenig nach unserem eigenen Verständnis zu verbessern – und gerade in Kreisen, die sich mit klassischer Musik auseinandersetzen, gibt es so viel Miss- und Unverständnis gegenüber den Naturwissenschaften, dass ich gern versuchen möchte, diese Situation zu verbessern.

Sie selbst haben bereits als Neunjähriger Mathematik, Chemie, Biologie und Physik studiert, letzteres vier Jahre lang – würden Sie das Physikstudium irgendwann noch einmal gern abschließen?

Wenn es nur nach meinem Kindheitstraum ginge, dann auf jeden Fall – aber Realität ist, dass ich jetzt einen Beruf habe, der mich immer noch überrascht und mir großen Spaß bereitet. Und es hat im Konzert noch nie einen Moment gegeben, wo ich nicht damit glücklich gewesen wäre, Musiker zu sein.

Was nicht verwundert angesichts der Tatsache, dass nicht nur Ihr Mentor Alfred Brendel Sie schon früh als „Jahrhundert-Genie“ bezeichnet und von der „größten musikalischen Begabung“, der er je begegnet sei, geschwärmt hat.

Ich möchte dieses Zitat wirklich einmal im Original sehen – ich kann einfach nicht glauben, dass es tatsächlich existiert. Das ist wie in der Musikwissenschaft: Entscheidend ist die erste Quelle – und von der möchte ich eine handschriftliche Bestätigung mit Unterschrift haben (lacht).

Ich werde mich darum bemühen – auf jeden Fall kursiert dieses Zitat schon seit bald einem Jahrzehnt. Wäre es Ihnen lieber gewesen, solch ein Satz wäre nie aufgetaucht, schließlich bedeutet dieser ja auch eine große Last und Bürde?

Als Pianist ist es mir vor allem wichtig, dass ich die Gelegenheit habe, vor einem Publikum das spielen zu können, was mich interessiert. Und dafür braucht es im Hintergrund eine Maschinerie, damit das Publikum in den Konzertsaal kommt – und anscheinend haben solche Zitate, egal ob sie nun echt sind, wesentlich dazu beigetragen, dass ich meinen Beruf unter solch vorteilhaften Bedingungen ausüben darf.

Nun hat Alfred Brendel ja nicht nur über Sie, sondern noch viel mehr mit Ihnen gesprochen – welchen Themen und Unterhaltungen haben Sie dabei am meisten beeindruckt?

Ich denke gern an ganz viele schöne Gespräche zurück. Etwa als wir 2011 auf einer kleinen Tournee waren und zusammen gereist sind: Das war ungeheuer inspirierend für mich – nicht nur hinsichtlich der Musik, sondern auch für das Leben. Denn er hat mir neue Perspektiven eröffnet, was das Leben wertvoll macht wie die Liebe zur Bildenden Kunst, der Sinn für Humor und überhaupt die Zuneigung zu allem, was raffiniert ist.

Hat sich sein Sinn für Raffinesse ausgewirkt auf Ihren Blick auf die Welt?

Hinsichtlich der Musik auf jeden Fall! Bei einem Mentor wie Alfred Brendel geht es natürlich vor allem um die Frage des Hörenlernens – und nicht um die Verbesserung der Ausführung. Natürlich spielt auch die Umsetzung der eigenen Vorstellungen eine Rolle, aber zuerst muss die Idee hinter der Vorstellung vermittelt werden.

Und was waren die interessantesten Themen jenseits der Musik?

Schon jene aus der Bildenden Kunst. Vielleicht habe ich nicht solch ein großes Interesse wie er für alles Groteske in Gemälden oder auch in Skulpturen: Das hat ihn immer sehr fasziniert und ist wohl auch Teil seines Charakters. Mich berührt das Groteske innerlich nicht so.

Stattdessen begeistern Sie sich offenbar für Kirchen – in Hirson nahe der belgischen Grenze haben Sie nach einem dortigen Konzert die 1929 im Art-Deco-Stil erbaute Kirche Sainte-Thérèse-de-l’Enfant-Jésus gekauft… oder suchten Sie nur nach einer Möglichkeit, Geld möglichst rasch zu verbrennen?

Ja, damit kann man ganz schön Geld vernichten – und es gibt jetzt sogar zwei Projekte, die noch mehr Geld vernichten könnten: nämlich dort die farbige Fensterrose zu erneuern und eine Orgel für die Kirche bauen zu lassen. Insofern rufe ich an dieser Stelle gern zu Spenden auf… (lacht).

Was bringt einen jungen Mann dazu, sich eine eigene Kirche zu kaufen?

Meistens hat man bei Projekten ein Ziel – und sobald dies erreicht ist, ist damit dann auch das Projekt beendet. In diesem Fall gilt das nicht: Ich habe die Kirche gekauft, um auf eine Reise zu gehen und zusammen mit diesem Gebäude zu leben, Möglichkeiten zu entdecken, aufzunehmen und auch zu verwirklichen. So haben wir bis heute schon viele ungewöhnliche Projekte veranstaltet – und es bleibt immer spannend, sich Gedanken um die nächsten Projekte zu machen.

Wenn Sie in diesem Kirchenraum sind, erleben Sie dort auch ein Gefühl der Demut?

Ja – zumindest wenn der Begriff so gemeint ist, wie ich ihn verstehe.

Fällt es einem Genie und Jahrhunderttalent wie Ihnen, der über eine solche Vielzahl an Talenten und Fähigkeiten verfügt, schwer, Demut zu bewahren?

Demut zeigt sich ja auf ganz verschiedene Art und Weise – sei es nun in der Beziehung zum Universum, zur Gesellschaft, gegenüber anderen Menschen oder auch sich selbst. Und für viele große Wissenschaftler ist Demut in der Beziehung zum Universum zweifellos ein Leitprinzip gewesen.

Wer sich mit Ihnen unterhält, kann sich nur schwer vorstellen, dass in Ihrem Leben Momente des absoluten Nichtstuns existieren. Gibt es Zeiten, wo Sie die Gedanken einfach nur mal schweifen lassen?

Das ist wiederum nicht das Nichtstun.

Da haben Sie mich nun bei einer unpräzisen Formulierung erwischt…

...aber um Ihre Frage zu beantworten, würde ich sagen: während des Konzertes.

Aber im Konzert sitzen Sie doch hochkonzentriert da.

Genau – und wenn man hochkonzentriert auf dem Klavierhocker sitzt, dann ist man in der Lage, die Gedanken schweifen zu lassen. Und nimmt doch gleichzeitig alles wahr, was man hört und vor einer Sekunde selbst gespielt hat und lässt sich dann etwas einfallen, wie man die nächste Sekunde gestalten könnte – eine Art der freien Improvisation.

Was ja aber bedeutet, dass Ihre Gedanken in dem Moment dann doch sehr mit Ihrem Spiel beschäftigt sind und mitnichten frei umherschweifen.

Armstrong: Es gibt keine Gedanken ohne Struktur – und die Musik ist dann quasi eine Struktur für die Gedanken, die an sich eigentlich ganz frei daherkommen. Wahrscheinlich hat es in der Geschichte der Menschheit immer zu viele Dinge gegeben, die man erledigen musste. Für mich ist die Musik die einzige Gelegenheit, aus diesem Kreislauf auszusteigen. Wenn ich mich mit Musik beschäftige, gewinne ich eine geistige Klarheit, die es sonst so nicht gibt, weil das Leben an sich einfach chaotisch ist.

Am 12. Juli tritt Kit Armstrong um 20 Uhr in der Stadthalle Mülheim auf. Karten (25-45 Euro): 0211/274000