Bodo Kirchhoff feiert seinen 70. Geburtstag – und erinnert sich in „Dämmer und Aufruhr“ an die frühen Jahre

„Dämmer und Aufruhr“ heißt der Roman, in dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff sich pünktlich zu seinem heutigen 70. Geburtstag an Kindheit und Jugend erinnert. Doch endet der Dämmer, „der Unschuldsschlummer meiner frühen Jahre“ bereits auf Seite 18 und im Alter von vier Jahren, als der „kleingeduldige Kavalier“ im sommerlichen Pensionszimmer in Kitzbühel zu Füßen seiner nackt ruhenden Mutter kniet und mit einem Bleistift „das mütterlich Rückwärtige“ erkundet. Die Mutter murmelt: „Aber nicht mit der spitzen Seite, mit der guten.“

Was für ein Bild. Und dabei so ganz harmlos umspült von diesen mäandernden Kirchhoff-Sätzen. Einmal mehr ist dem Schriftsteller, der in seinen Anfängen für allzu kalte, ja pornografische Erotik gescholten wurde, ein schockierender Auftakt gelungen – mit „Bildern von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden“.

Die Träume und Hoffnungen der Eltern

Die Mutter ist Schauspiel-Schülerin in Wien und pflegt im letzten Kriegsjahr Verwundete, der Vater ist Kriegsheimkehrer, „beinamputiert, aber fesch“ — „zwei, die sich unter weltfriedlichen Umständen niemals gefunden hätten“. Den Träumen und Hoffnungen der Eltern spürt Kirchhoff schreibend nach, mietet sich sogar im italienischen Badeort Alassio ein, wo sie einst glückliche Tage verbrachten – und erzählt so zugleich von den verborgenen Ängsten einer ganzen Generation, die das Glück nicht zu greifen weiß.

Der Junge wird abgeschoben, die Großmutter ist ihm geliebte „Hüterin“ und das Internat Gaienhofen bald fester Wohnsitz – mit den urlaubsbedingten Unterbrechungen durch ein Familienidyll, das Kirchhoff und die jüngere Schwester früh als Fassade erkennen.

Der „Erwählte“ des Chorleiters

Das „Sprachlose“ mit seiner Mutter, sagte Kirchhoff einmal, habe ihn gewissermaßen vorbereitet auf das, was dann in Gaienhofen passierte und was er spät erst öffentlich machte. Als Elfjähriger wird er der „Erwählte, Emporgehobene, Verzauberte“ seines Chorleiters, wie er es nun beschreibt. Der Kantor sieht aus wie Winnetou, raucht Roth Händle und fährt Cabrio, den Jungen nennt er „Schönerdu“ und holt ihn auf sein Zimmer, legt ihn auf eine Luftmatratze am Seeufer, setzt ihn neben sich ins Cabrio. Vom „horrenden Glück im Unglück“ schreibt Kirchhoff, von einem „Übermaß an Erlebtem und dem Mangel an Sprache“ – das erst endet, als herauskommt, dass er nicht der einzige war, „den der Kantor beiseite nimmt“. Der Chorleiter verschwindet, angeblich ins Ausland.

Irritierend dürfte auf viele Leser wirken, noch dazu vor dem Grundrauschen der #metoo-Debatte, dass er den Missbrauchs-Täter nicht Täter nennt und sich nicht Opfer. Im Gespräch vor einigen Jahren erklärte er diese Weigerung: „Inzwischen weiß ich: Das bin auch ich. Das ist nicht nur der Andere, der mir etwas angetan hat. Sondern das bin auch ich, das ist mein Leben.“ Und Schreiben: „Eigentlich zielt mein ganzes Werk darauf hin, Sprache und Sexualität zu versöhnen“ – das Begehren in Worte zu fassen, das elementare „Widerfahrnis“, wie jener Roman Kirchhoffs heißt, der 2016 mit dem Deutschen Buchpreis geehrt wurde. In diesem Sinne gibt er nun Einblick in die Kernmomente des Intimen.

Das Schreiben als Selbstentblößung

Für Bodo Kirchhoff war das Schreiben immer schon Selbstentblößung, war das Material das Eigene – eine Überzeugung, die er auch in seiner Schreibschule am Gardasee vehement vertritt. Dass die Mutter – Evelyn Peters – als Schriftstellerin die eigenen Seelentiefen nicht nutzte, sondern lieber seichte Liebesromane schrieb, wirft er der 2004 Gestorbenen nun noch einmal öffentlich vor. Wie überhaupt das eigentliche Drama des begabten, des anderen Wünsche erahnenden Kindes nicht jenes mit dem Kantor, sondern jenes mit der diffusen Mutterfigur zu sein scheint. Wenn er nun beschreibt, wie er die alternde Mutter im Pflegeheim besucht, dann gelingt doch selbst in einem „Moment ihres Interesses an einem Beitrag des Besuchers an der Unterhaltung“ kein offenes Gespräch über Gewesenes. Allein in ihrer Telefonstimme erkennt er „etwas Nährendes, behütendes, Tröstliches“, einen Ersatz für „ihr so lange versäumtes Kochen und Immerdasein“. Das sind Sätze, die jahrzehntelangen Schmerz offenlegen.

Einst reichten dem jungen Bodo Kirchhoff weder „meine Siege im Tischtennis noch ein Weitsprung über fünf Meter“, „um mich als liebenswert zu empfinden“. Er greift zum Aufsatzheft. Und schreibt die erste Geschichte. Ein Ausweg – und ein Anfang.

Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre. Frankfurter Verlagsanstalt, 462 S., 18 €