„Both Directions At Once“ ist ein Album der Saxofon-Legende John Coltrane, veröffentlicht nach 55 Jahren.
Im Begleitheft findet Sonny Rollins – auch so ein Saxofonkoloss – die treffende Formel für die wohl wichtigste Entdeckung dieses Musikjahres: „Das ist so, als fände man einen neuen Raum in einer der großen Pyramiden.“ Das sehr überraschend aufgetauchte komplette Album „Both Directions At Once – The Lost Album“ des legendären John Coltrane Quartets ist alles andere als noch so eine gängige Resteverwertung, wie sie im Musikgeschäft gang und gäbe ist, damit die Zugpferde weiter galoppieren. Es ist ein 55 Jahre nach seiner Entstehung wiederentdecktes und erstveröffentlichtes vollständig produziertes Album der wichtigsten Formation des modernen Jazz mit Tenor- und Sopransaxofonist Coltrane, Schlagzeuger Elvin Jones, Bassist Jimmy Garrison und Pianist McCoy Tyner.
Das Album enthält sieben Stücke
Am 6. März 1963 arbeiteten sie intensiv in den berühmten und von ihnen und ihrem Produzenten Bob Thiele favorisierten Studios von Rudy Van Gelder in Englewood Cliffs/New Jersey an einem kompletten neuen Werk. Originalkompositionen, die nirgendwo anders zu finden sind, wurden interpretiert, dazu das durch Frank Sinatra berühmt gewordene „Nature Boy“, das aus Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ stammende „Villa“, das im Coltrane-Werk zentrale „Impressions“ oder ein ausführlich hingebreiteter „Slow Blues“, insgesamt sieben Stücke, die in einer Deluxe Edition noch um alternative Takes erweitert werden.
Es war eine sehr produktive Zeit dieser Superband der Moderne. Sie war mitten in einem zweiwöchigen Engagement im New Yorker Birdland, und tags darauf entstand in den Van Gelder Studios das auch kommerziell erfolgreiche Album des Quartetts mit dem Sänger Johnny Hartman. Irgendwie verschwand das Masterband der Aufnahmen vom 6. März. Coltrane aber hatte ein Referenzband mitgenommen in sein Haus in Queens, das er noch mit seiner ersten Frau Naima teilte. Beide lebten bereits in Trennung. Man könnte viel darüber orakeln, warum das Band in Vergessenheit geriet. Seine künstlerische Qualität jedoch scheidet als Grund definitiv aus. Zum Glück hat sich das Impulse!-Label nun an die Erben gewandt, die den Schatz tatsächlich fanden, der überdies in sehr gutem Zustand war.
Coltrane veränderte den Kern der modernen Musik
Jene Zeit markiert auch in der Historie des Landes eine turbulente Epoche. Rassentrennung und Zusammenschluss der großen Gewerkschaften, Krisen in Kuba und im Libanon, Kennedy und sein früher Tod, Martin Luther King und Malcolm X, Vietnam und ein bis ins Absurde aufgeblasener Wettlauf zweier Supermächte im All. Unruhen in der Welt und Unruhe in den noch gar nicht so einigen Vereinigten Staaten. Etwas lag in der Luft.
Genau vor diesem historischen Hintergrund veränderte Coltrane den Kern der populären Musik. Der Jazz war überreif dafür, und er stand dabei in vorderster Reihe, seit er 1960 der eher banalen Rodgers/Hammerstein-Musicalnummer „My Favorite Things“ mit endlos insistierendem, fernöstlich anmutendem Sopransaxofon unerwartete Tiefe einblies. 1961 gründete Coltrane sein klassisches Quartett. Dave Liebman nannte es „die aufregendste Band, die je Jazz gespielt hat“. Die formulierte am 9. Dezember 1964, ebenfalls in den Van Gelder Studios, mit „A Love Supreme“ die Bergpredigt des Jazz, die bis heute nichts von ihrer Dringlichkeit und spirituellen Tiefe verloren hat: eine auf knapp 33 Minuten destillierte Essenz des Jazz. Fortan verband sich der Hohepriester des Neuen bis zu seinem Tod als Vierzigjähriger am 17. Juli 1967 mit der jungen New Yorker Avantgarde zu wuchtigen Abstraktionen von immenser Konsequenz.
Die Integrität eines unvergleichbaren Musikers
Die nun veröffentlichte Albumsensation verweist schon im Titel auf die gleichzeitigen beiden Richtungen, die Coltrane hier in Richtung auf ein Ziel einschlug. Einerseits scheinen da noch die Wurzeln von Bebop und Hardbop auf, zum anderen aber brachen sie ins Neuland auf. Beide Richtungen finden hier zur Synthese. Es macht diese Aufnahmen zum Ereignis, wie dieser Umschlagpunkt in sieben Varianten fixiert und durchdekliniert wird. Und immer wieder schimmert diese Integrität eines unvergleichbaren Musikers durch, die seine Kunst weit über das rein Musikalische hinaushebt. Es ist dieser von ihm geschaffene Sound, der das Transzendente zu umkreisen scheint und einen Gipfel afroamerikanischer Kunst darstellt. Die Wirkungen von dort her waren bewusstseinserweiternd und gemeinschaftsstiftend.
John Coltrane: Both Directions At Once – The Lost Album. Impulse! Records/Universal Music.