Essen. . Die Theater des Reviers digitalisieren sich: mit Stadtraum-Spielen, Handy-Apps oder einer Inszenierung an zwei Orten. Reise ins Schauspiel 2.0.
Die Spezialagentur für Alternierende Territorien „Spalt“ bittet um Hilfe. Es geht um einen verschwundenen Bus und eine Realität namens „Essen zwei“, es geht um Fahrgäste, die ihre je eigene Version des Vorfalls schildern. Stoff für ein vielstimmiges Nahverkehrs-Drama – tatsächlich aber verlassen die Macher von „Der Spalt“ vertraute Pfade und den Theatersaal. Zuschauer werden zu Mitspielern, stromern mit dem Handy durch die Stadt, lösen per App das Rätsel.
In seinem 125. Jahr wagt das Essener Grillo-Theater etwas: Dramaturg Florian Heller und Game-Designerin Christiane Hütter haben mit Hilfe der Kunststiftung NRW das „Theater-Game“ entwickelt: Ähnlich wie bei Pokemon Go werden die Spieler durch die Stadt geleitet. Im Altenessener Allee-Center, am Hauptbahnhof, am Rüttenscheider Stern bringen „Forschungsstationen“ Spieler und Macher zusammen. Ein Austausch, der den Spielern Tipps verspricht – und dem Theater Kontakt zu einer neuen Zielgruppe. Ein Projekt wie dieses habe „etwas Therapeutisches“, sagt Christiane Hütter: „Für das Theater geht es um Beziehungsarbeit mit dem Publikum.“
Antigone als absurder Algorithmus?
Das Theater sucht neue, virtuelle Räume. Natürlich: Längst hat die Digitalisierung die Bühnen erobert, längst werden Licht und Ton hier computergesteuert. Und manchen mag dieses Maß an Technik reichen, im Theater geht es ja um den Schauspieler, das Stück, den Zuschauer, um das reale Erlebnis in Echtzeit. Antigone als absurder Algorithmus, Hamlet als hohles Hologramm? Thalia bewahre!
Doch hat sich an den Stadttheatern und um sie herum eine junge Szene entwickelt, die das Spiel mit Technik liebt, das Smartphone als Bühne begreift – und innovationsscheue Bedenken beiseitefegt: „Das Theater“, so Designer Stefan Scheer, „hat sich einst auch dadurch verändert, dass es elektrisches Licht gab.“ Für das Bochumer Schauspielhaus hat Scheer ein Handy-Spiel entwickelt, das den textbasierten Abenteuern der 80er-Jahre (etwa: Treasure Island) nachempfunden ist. „Man ist ein Profiler eigener und fremder Träume“, erklärt Scheer die Idee. Wer die App „Rempire“ lädt, klickt sich auf einer Art Pinnwand durch surreale Motive, immer auf der Suche nach der verschwundenen Traumforscherin Nathalie Stern. Ein intelligenter Zeitvertreib, der auf einer Studie zu Traummotiven beruht – und trotzdem Spaß macht.
Wer stellt die App in den App-Store?
Aber was hat das noch mit Theater zu tun? „Wir haben uns die Freiheit genommen, die Extremversion auszutesten“, sagt Miriam Wendschoff, Dramaturgin am Schauspielhaus, „und auf die Präsenz von Schauspielern und Zuschauern ganz zu verzichten.“ Allein zwei Gesichter dürften Theatergänger erkennen: die Schauspieler Beatrix Feldmann und Jürgen Hartmann, ansonsten bewegt sich das Projekt losgelöst vom Theaterbetrieb. Jedenfalls beinahe. Denn das Experiment hat den Bochumern gezeigt, wie sehr die Strukturen des Theaters auf – ja, Theater ausgelegt sind. Etwa, wenn es darum geht, wer nun die fertige App in den App-Store stellt – „und wie geht das?“
Akademie für Theater und Digitalität
Bei der Frage „Wie geht das?“ setzt Dortmunds Intendant Kay Voges mit seiner Idee an, eine „Akademie für Theater und Digitalität“ zu gründen: ein Zentrum für Fort- und Ausbildung inklusive Masterstudiengang. Investoren werden gerade beworben, bald will Voges den Zeitplan für die Akademie-Eröffnung bekanntgeben. Dann soll einerseits der Bühnentechniker, seit 30 Jahren im Job, fit für die Programmierung von LED-Scheinwerfern gemacht werden. Zugleich sollen Stipendiaten künstlerisch-technische Projekte verfolgen wie: „Können wir zusammen mit Künstlichen Intelligenzen Theater machen?“
Parallelwelt in Dortmund und Berlin
Kay Voges selbst ist Experte im Umgang mit (beinahe schon) intelligenter Künstlichkeit. In seinen Stücken („4.48 Psychose“ oder „Einstein on the beach“) hat er etwa die Gesundheitsdaten seiner Schauspieler projizieren lassen und Musik in Lichtreflexe umgewandelt. Demnächst wird er an zwei Orten gleichzeitig Theater machen: In Dortmund und am Berliner Ensemble inszeniert er „Die Parallelwelt“ mit je sieben Schauspielern, die am jeweils anderen Ort zu virtuellen Figuren werden.
„Die Gegenwart“, sagt Voges, „entmaterialisiert sich – es gibt keine Briefe mehr, keine Landkarten, keine Schallplatten, nur noch Daten. Das Theater erzählt von einer Welt, die sich verflüssigt.“ Und doch wird auch dieses Theater um jenes Zentrum kreisen, das es seit Jahrhunderten zu erforschen sucht: „den Menschen aus Fleisch und Blut“.