Düsseldorf. Lange hat der Ballettchef der Rheinoper einen Bogen um Handlungsballette gemacht. Beim „Schwanensee“ ist er nun für Überraschungen gut.
Sie sind das berühmteste Liebespaar der Ballett-Literatur: Siegfried – ein verstörter Prinz, der sich gegen die Heiratspläne seiner Mutter sträubt. Und Odette, die tagsüber als fremdgesteuertes Schwanenmädchen ihre Kreise ziehen muss und nur nachts zum menschlichen Wesen wird. Und dabei die Liebe des Prinzen erweckt. Ein tragisches Ende nehmen beide – auch in der modernen, tieftraurigen „Schwanensee“-Fassung, die Martin Schläpfer jetzt für Düsseldorfs Rheinoper schuf.
Zusammen mit den Hauptdarstellern Marcos Menha und Marlúcia do Amaral, die eher als reale, leidende Figuren denn als Luft-Wesen faszinieren, wurden Schläpfer und Axel Kober, der mit den Düsseldorfer Symphonikern einen rauschhaften Tschaikowsky entfachte, nach der Premiere gefeiert. Nicht mit frenetischen Ovationen, aber minutenlang. Es ist ein expressiver Ballettabend „b.36“-Untertitel „Schwanensee“. Dennoch mischten sich einzelne Buhrufe unter die Begeisterung. Warum? Marcos Menha und Marlúcia do Amaral berühren zwar durch innige, aber kurze Liebes-Pas-de-deux. Doch sie und Schläpfer verwöhnen das Publikum weder mit schwerelosen Grands Pas-de-deux und schillernden Sprung-Variationen, noch mit Schwanenreihen in geometrischen Bildern und den trippelnden „vier kleinen Schwänen“.
Die Neudeutung des „Schwanensee“ an der Rheinoper verzicht auf Pomp und Magie
Keine Bravour, keine Nationaltänze im dritten Akt, kein royaler Pomp des Zarenhofs, keine Magie von ätherisch schwebenden Wesen – all’ das, was den „Schwanensee“ mit den weißen Akten zum Ballett aller Ballette gemacht hat, fehlt. Wer sich danach sehnt, wird in der traditionellen, aber entstaubten Version an der Aalto-Oper fündig.
Schläpfer, der sich fast zwei Jahrzehnte gegen abendfüllendes Handlungsballett wehrte, geht andere Wege. Er geht an die Wurzeln des Märchens von der Schwanenjungfrau und kreiert mit einem dunklen Psycho-Kammerspiel à la Strindberg eher ein forderndes Projekt Schwanensee. Neben großzügigen Auslassungen in Tschaikowskys Partitur stemmt er sich in mehreren Passagen gegen den Fluss der aufwühlenden Musik und wagt staatstheatralische Stille. Klar, dass bei ihm keine Schwäne oder ein Schwanensee zu erahnen, geschweige zu sehen sind. Zwar huscht und flattert kurz eine Gruppe von Mädchen barfuß mit knöchellangen Federröcken im Stil des Moulin Rouge über eine leere Bühne (Florian Etti), dekoriert mit leeren Rahmen in Petersburgerhängung. Doch sie verschwinden so schnell, wie sie auftauchen. Selten sind ausgelassene Momente: so, wenn Siegfrieds Freunde (wie Brice Asnar) in fantastischen Flug-Sprüngen Kunststücke vorführen.
Schläpfer steuert auf ein Psycho-Drama zu. Der alte Stoff scheint als skelettiertes Märchen durch
Schläpfer zertrümmert nicht, er skelettiert das Märchen, setzt Odettes böse Stiefmutter hinzu (sonst nie zu sehen): Sie (Young Soon-Hue) hat den Magier Rotbart (Sonny Loczin) im Schlepptau. Der bringt Odile mit – eine Chimäre, die der Prinz irrtümlich für Odette hält, weshalb er sich neu verliebt und sein Glück zerbricht.
Sichtbar macht Schläpfer das Beklemmende der Tragödie, betont die innere Zerrissenheit des Prinzen. Er ringt mit seiner Fassung, sobald die Königinmutter die Heiratskandidatinnen vorstellt. Marcos Menha zeichnet mit seinen elegant fließenden Linien (wie ein männlicher Schwan) und strahlenden Präsenz ein expressives Porträt des Siegfried und bleibt zweieinhalb Stunden Sehnsuchtsobjekt von Odette. Athletisch geerdet, aber weniger schwebend, ringt Marlúcia do Amarals Odette um Siegfrieds reine Liebe. Als einziges Schwanenwesen tanzt sie auf Spitze – ein Ersatz für das Krönchen, auf das Schläpfer verzichtet.
Fazit: Ein psychologisch dicht inszeniertes Tanz-Drama mit modernen Figuren. Schläpfer und sein exzellent trainiertes Ballett am Rhein verzichten auf weiße Schwanen-Akte auf Spitzenschuhen und viele Bravour-Nummern.