Recklinghausen. Der Meister kommt und die Pilger folgen: Claus Peymann gastierte mit seiner Deutung von Shakespeares „König Lear“ bei den Ruhrfestspielen.

Wo gibt es das noch im Theater abseits knalliger Klamotte – Szenenapplaus für einen Satz, hellhörige Zustimmung für listige Worte im traurig schwebenden freien Vers: „Es ist der Fluch der Zeit, dass Tolle Blinde führen!“ Beifall brandet auf am Dienstagabend im Festspielhaus. Der Text liegt frei, weil nichts ihn verschüttet: keine Video-Armee, keine Fäkalien-Fete, keine Gröl-Attacke. Theater von früher also, eindeutig vom Aussterben bedroht. Der Mann, der das noch pflegt, der das Zeug hat dazu, nennt sich ja selbst: „Dinosaurier“.

Draußen Busse („Rheingold Reisen Wuppertal“) und reichlich Autos mit Bochumer Kennzeichen. Wir übersetzen: Die Peymann-Pilger sind da, alt geworden mit dem Theaterkönig. Mancher hinkt ins Parkett, wo der Gral wartet, es schleppen sich gar welche. Aber sie wollen und werden sie aushalten, die gut dreieinhalb Stunden des Meisters: Claus Peymann hat „König Lear“ im Gepäck.

Sie sind beide Männer von 80 „und ein bisschen mehr“: Lear und Peymann. Ein Zufall sicher nicht, dass dieser Shakespeare die erste Inszenierung nach dem Abtritt in Berlin war. Der Mächtige ist nur noch Gast, ganz Lear also, der (das ist vielleicht ein Unterschied) freiwillig und eindeutig zu früh das Reich miesen Töchtern übergibt.

Nur eine geht leer aus: Cordelia. Das liebste Kind schasst der Alte, weil es wahr spricht. Da hat Peymann die Klammer seiner Doppelbesetzung: Ehrlich und unbequem ist der Spott vom Narren Lears, also spielt beide: Lea Ruckpaul, die eine als kühles Aschenputtel, den anderen allzu mechanisch trompetend. Da hört man im variationsarm Gestanzten (leider), was diesen guten Abend von einem großartigen unterscheidet. Das Theaterwunder Claus Peymanns gelang immer auch als Gipfeltreffen der besten Spieler. Er hat sie nicht mehr. Noch ein Reich verloren.

Peymann arbeitet jetzt frei, damit fehlt auch im „Lear“ die Schauspieler-Elite

Dieses erste Engagement als freier Regisseur führt Peymann in die alte Heimat Stuttgart. Lauter ehrenwerte Mimen, aber teils Welten entfernt von den Außerordentlichen, den monströs Charismatischen, den teuflisch begabten Theateratlanten, die Peymanns Schaffen Jahrzehnte schulterten.

Als Lear hat er sich immerhin einen Weggefährten mitgebracht: Martin Schwab. Ein König? Nein, aber ebenfalls 80 und einer der brillantesten Nebenrollenfürsten, die wir kennen. Da ist es schlüssig, dass sein Lear von parodistischer Putzigkeit ist und jedes Wort (ob „Decke“ oder „Herz“) kindertheatralisch illustriert. Aber es tönt der Weg in den Wahnsinn so wacker, dass Schwab einen zu rühren versteht. Wie allen anderen gehört ihm Karl-Ernst Herrmanns Bühne unverstellt. Das letzte Werk des Theaterarchitekten schenkt einmal mehr: Spiel-Raum. Wir sehen Lears Krone, wortwörtlich an den Nagel gehängt, sonst nichts. Herrmanns schwarze Schräge wird das bleibende Bild einer Welt, die zur Neige geht. Stille regiert, ein paar Narrenlieder nur – das schafft Platz fürs tosende Riesenwetter auf wilder Heide, das Peymann zirzensisch aufs Publikum loslässt.

Solides Stuttgarter Ensemble in einer schlank unmodischen, aber sehr gegenwärtigen Inszenierung

Lukas Sperbers Edmund – die Physis gespielten Irrsinns famos, nie aber übersättigt ausspielend – hebt sich ab von einem soliden Ensemble, das Peymanns Primat der Sprache nur teils ehrgeizig folgt. Aber da die historische Unverbindlichkeit der Kostüme (Lear umschlottert ein weißer Smoking) nichts tagesaktuell verengt, zünden Shakespeares Sätze um so mehr. Plötzlich steht in dieser Regentendämmerung ein Trump-Statement im Raum, später #MeToo: Peymann drückt und drängt nicht, es ist (fast) reiner Shakespeare, frei für uns und das, was wir hören (können).

Am Ende ein Schlachtfeld, noch später der Triumph: Peymann war mitgereist, die Menschen applaudierten ihm stehend, dem immer noch alerten Titanen. Seine Rosen schenkt er dem Publikum. Er weiß ja, dass dessen Herz das seine ist.

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Ehe sich der Vorhang für „König Lear“ hob, trat Claus Peymann vor das Publikum: Indem er und das ganze Ensemble diese Vorstellung Karl-Ernst Herrmann widmeten, verneige sich das Theater vor einem seiner größten Bühnenbildner.

Herrmann war am Sonntag 81-jährig gestorben. Für Peymann schuf er 48 Bühnenbilder.