Mülheim/Recklinghausen. . Familien, Freundschaften driften auseinander: Ewald Palmetshofer adaptiert Gerhart Hauptmann in „Vor Sonnenaufgang“
„Wie lange, glaubst Du, driften wir noch auseinander, bis wir uns nicht mehr hören können, wenn wir sprechen?“ Die verzweifelte Frage des Journalisten Alfred Loth gehört zu den Kernsätzen in Ewald Palmetshofers Familiendrama „Vor Sonnenaufgang“. Mit der Auftragsarbeit des Schauspielhauses Basel wurden in der Stadthalle die 43. Mülheimer Theatertage NRW eröffnet. Bis zum 2. Juni wetteifern beim „Stücke“-Festival sieben neue deutschsprachige Bühnenwerke um den mit 15 000 Euro dotierten Dramatikerpreis, den der Österreicher Palmetshofer 2015 bereits einmal für „Die Unverheiratete“ gewann.
Aufführungs-Doppel bei „Stücken“ und Ruhrfestspielen
Von der Kraft des Textes konnten sich Theaterfreunde gleich doppelt überzeugen. Zwei Tage vor der in Mülheim präsentierten Baseler Inszenierung erlebte das Stück in Recklinghausen als Koproduktion von Ruhrfestspielen und Deutschem Theater Berlin seine deutsche Erstaufführung.
Es sind starke Figuren, die in „Vor Sonnenaufgang“ in realistischen Situationen zusammengeführt werden. Die junge Helene kommt nach Jahren heim zu ihrer Familie; sie will ihrer psychisch labilen Schwester Martha bei der Geburt des ersten Kindes helfen. Dr. Schimmelpfennig, ein Freund ihres Mannes, betreut die Hausgeburt. Die Alkoholexzesse des Vaters, der als mittelständischer Unternehmer zu Reichtum gekommen ist und dessen Geschäfte inzwischen weitgehend von seiner zweiten Ehefrau Annemarie und von seinem Schwiegersohn Thomas geführt werden, belasten das Familienleben.
Entfremdung der ehemaligen Freunde
Dann taucht nach 20 Jahren unvermittelt ein weiterer Studienfreund von Thomas auf, der linksorientierte Journalist Loth. Bald zeigt sich die Entfremdung der ehemaligen Freunde. Loth glaubt unbeirrt daran, „dass der Mensch sich ändern kann“, er will die Ursachen für das gesellschaftliche Auseinanderdriften aufspüren. Der „Macher“ Thomas empfindet dagegen nur noch Spott und Verachtung gegen „linke Moralisten“, die Sittenwächter, Ankläger und Richter in einem sein wollen. Er propagiert, was man Sozialdarwinismus nennen könnte.
Die Abgründe, die Loth aufzeigt, will Thomas mit einer nachvollziehbaren, gut erfundenen Geschichte überdecken. Er nennt das Meta-Politik, Hyper-Realität. Auf die Frage, ob der Mensch sich ändern kann, hat der eigentlich idealistische, aus Erfahrung zum Fatalisten gewordene Schimmelpfennig seine eigene Antwort. „Wir erfinden uns nicht mehr ... der Thomas war schon immer so, er kam nur nicht dazu, dann kam er her, Gelegenheit macht Diebe.“
Ein Stück für den Dramatikerpreis?
Anders als in der Recklinghäuser Inszenierung, in der Julia Steckel auf sich quälend langsam bewegender Drehbühne stark auf die tragischen, deprimierenden Aspekte des Stücks setzt, stellen Nora Schlocker und das wunderbare Baseler Ensemble zumal im ersten Teil auf die komödiantischen und satirischen Elemente ab, die den scharfen Dialogen innewohnen. Umso tragischer wird der Sturz. Martha erleidet eine Fehlgeburt; ob Helene und Loth zusammenfinden, steht in den Sternen.
Palmetshofers Stück hat etwas von Ibsen, vor allem aber ganz viel von Gerhart Hauptmann. „Vor Sonnenaufgang“ überträgt das gleichnamige Hauptmann-Drama aus dem Jahr 1889 ins 21. Jahrhundert. Die Figuren sind übernommen, nur in ein heutiges Milieu gestellt (aus der schlesischen Bauern- wird eine Unternehmer-Familie) und dabei neu und sinnfällig akzentuiert. Das Ergebnis ist ein eindringliches, wirkmächtiges Familiendrama, das freilich eine Grundsatzfrage aufwirft, weil Hauptmann nie wegzudenken ist. Wie eigenständig kann eine sogenannte „Überschreibung“ sein, um als „neues“ Stück um den Dramatikerpreis zu konkurrieren?
Fortgesetzt wird der Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb am Samstag, 19. Mai, mit Ibrahim Amirs „Homohalal“ in einer Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden.
Kartenbestellungen im Internet unter www.stuecke.de. Karten können zudem unter der Hotline-Nummer 0180 – 670 07 33 bestellt werden.