Essen. . Anschläge, Terrorakte, irre Einzeltaten: Das Gefühl der Bedrohung wächst. Was macht die Angst mit der Gesellschaft? Und was sagt sie über uns?
An einem Bahnhof in Wuppertal greift sich ein junger Mann ein fünfjähriges Kind und springt mit ihm ins Gleisbett, kurz bevor ein Zug einfährt – wie durch ein Wunder kommt das Kind mit Schürfwunden davon.
In einem Sonderzug für Fußballfans aus Mönchengladbach wird eine 19-Jährige vergewaltigt. Noch aus dem Party-Zug heraus kann sie ihre Eltern anrufen.
Und in Münster, da rast ein Mann mit einem Kleintransporter in eine Menschenmenge, tötet zwei Menschen, verletzt weitere schwer.
Drei Fälle im April, gleich vor unserer Haustür. Drei Täter, die bereits auffällig geworden waren und polizeibekannt. Drei Vorfälle, mit denen einmal mehr das Irre, Irrationale über uns hereinbricht. Es gibt keine unmittelbare Linie zwischen den Ereignissen, keinen Zusammenhang. Keine Verbindung zur Messerstecherei auf einem Schulhof in Lünen, zum Germanwings-Selbstmordflug, zur Terrorfahrt am Berliner Breitscheidplatz. Und doch drängt sich ein Gesamtbild auf, das nur den einen Schluss zuzulassen scheint: Die Welt, sie wird immer verrückter, unwägbarer, eine Bedrohung; wir müssen uns besser schützen.
Freilich dachten dies die Generationen vor uns auch.
Wir leben in einer der sichersten Gesellschaften, historisch und weltweit. Doch drei Viertel aller Deutschen, so eine aktuelle Studie, haben Angst vor Terror. Dabei tendiert die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer irren Gewalttat zu werden, gegen Null. Ein „Risikoparadox“ nennt dies der Soziologe Ortwin Renn: In den vergangenen 20 Jahren sind in Europa im Schnitt 48 Menschen jährlich Terror-Taten zum Opfer gefallen. Warum fürchten wir uns dann so?
Angst vor Haien, aber nicht vor Moskitos
Natürlich: Angst ist gut. Ohne sie gingen wir bei Rot über die Ampel, stopften uns mit Schokolade voll, putzten nie die Zähne. Oder würden gar nicht existierten, weil unsere angstfreien Vorfahren zu Säbelzahntigerfutter wurden. Evolutionsbiologen sagten, die Angst vor der großen, sichtbaren, blutrünstigen Bedrohung sei tief in uns verankert. Weshalb wir uns vor Haien gruseln (7 Tote jährlich), nicht aber vor Moskitos (700.000 Tote jährlich, wegen Malaria und Dengue-Fieber). Weshalb wir (oder unsere Eltern, Großeltern) Atomkraft und Waldsterben fürchteten, Aids und Ozonloch, BSE und Vogelgrippe. Mochten unsere Urgroßeltern noch viel zu sehr damit beschäftigt gewesen sein, gegen den Hunger zu kämpfen, haben wir heute Zeit, uns Sorgen zu machen.
In der „Risikogesellschaft“, die der Soziologe Ulrich Beck im Tschernobyl-Jahr 1986 ausrief, ist der Kult ums Risiko das Lebensgefühl. Seine Analyse scheint gültig bis heute, Parallelen zur Religion springen ins Auge: Wo wir uns einst zwischen Himmel und Hölle orientierten, fürchten wir heute irre Messerstecher und Amokfahrer. Wir glauben an die Macht von Straßenpollern und Ganzkörperscannern (und in Bayern glaubt man an die heilende Kraft eines neuen Psychiatriegesetzes, das aus Patienten Straftäter macht).
Ungewissheit und Verlustangst treffen jeden
Die Angst vor dem immer nächsten großen Risiko also bringt Ordnung in ein Leben, das unordentlich geworden ist, belastet von Wahlfreiheit und Möglichkeitsüberschuss. Belastet auch von dem Gefühl, dass der eigene kleine Lebensentwurf ständig zur Disposition steht. Im Buch „Gesellschaft der Angst“ skizziert Soziologe Heinz Bude eine Gemeinschaft, in der alles jederzeit aufkündbar scheint, im Beruf wie im Privatleben. Ungewissheit und Verlustangst treffen jeden – müssen aber von jedem Einzelnen ganz allein bewältigt werden.
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Zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Angststörungen, jeden vierten wird es im Leben treffen: Panikattacken, Phobien, bei dem einen früher, bei der anderen später. Diese Ängste aber sind so intim, dass wir ungern darüber sprechen; nicht umsonst nannte Freud sie den „Knotenpunkt der Seele“. Weniges verrät so viel über uns wie die Antwort auf die Frage: Wovor hast du Angst? Wie gut, wenn sich da ein Allgemeinplatz findet. Angstforscher Jörg Angenendt nennt die Angst vor Anschlägen und Terror eine „sozial akzeptierte Angst“. Sie findet sich in den Medien und in Wahlprogrammen (AfD könnte auch „Angst für Deutschland“ heißen), mit dieser Angst stehen wir nicht alleine da.
Die Angst, zum Opfer zu werden
Womöglich aber ist die Angst, zum Opfer zu werden, insgeheim gar nicht unsere größte. Sondern die, so abzustürzen, so aus der Gesellschaft herauszufallen wie jene Menschen, die zum Täter wurden. Zwischen uns und dem Irren, der brabbelnd durch die Fußgängerzone zieht, liegt vielleicht nur ein Wimpernschlag des Schicksals. Nicht die Verrückten in unserer Mitte könnten unsere größte Sorge sein – sondern das Irrationale, Unkontrollierbare in uns selbst.