. Alle wollen sie in die andere Richtung. Nach Westen, in Sicherheit. Nicht so das greise Paar, das da im März 1945 am Bahnhof von Dresden steht. Sie zieht es nach Schlesien, ins Siebengebirge, wo doch schon die Russen sind. Züge verkehren sowieso kaum, ein eigentlich unmögliches Unternehmen. Aber dem alten Mann schlägt man nichts ab. Er ist ein Nationaldichter, ein Nobelpreisträger. Er wird sogar mit militärischem Begleitschutz zur Bahn gebracht.
Alle wollen sie in die andere Richtung. Nach Westen, in Sicherheit. Nicht so das greise Paar, das da im März 1945 am Bahnhof von Dresden steht. Sie zieht es nach Schlesien, ins Siebengebirge, wo doch schon die Russen sind. Züge verkehren sowieso kaum, ein eigentlich unmögliches Unternehmen. Aber dem alten Mann schlägt man nichts ab. Er ist ein Nationaldichter, ein Nobelpreisträger. Er wird sogar mit militärischem Begleitschutz zur Bahn gebracht.
Gerhart Hauptmann war, tragischer Zufall, just im Sanatorium zur Kur, als Dresden bombardiert wurde. Vom anderen Elbufer aus musste er mit ansehen, wie die Stadt erlosch. Der Untergang des Nazi-Reichs war nur noch eine Frage der Zeit. Und dennoch wollte Hauptmann, der damals schon 81 Jahre zählte, zurück nach Agnetendorf, eine Art Altersstarrsinn. Zu seinem palastähnlichen Domizil Wiesenstein, das er sich schon erbaut hatte, bevor der Ort, wohl auch durch den Rummel um seine Person, zum Promi-Ort wurde.
Davon handelt „Wiesenstein“, der neue Roman von Hans Pleschinski. Der ist Literatur und Literaturgeschichte zugleich. Denn es geht um nichts weniger als die letzten Tage und Monate des einst gefeierten Dichters, den man heute nur noch mit wenigen Bühnenwerken verbindet und sonst weitgehend vergessen hat. Pleschinski findet für sein Porträt eine sehr einfache und doch wirkungsvolle Perspektive. Das Paar wird nicht nur von seiner Sekretärin Anni Pollak begleitet, in Dresden schließt sich ihnen auch ein Masseur des Sanatoriums, Paul Metzkow, als Pfleger an. Das ist historisch verbürgt. Bei Pleschinski tut der Mann das freilich nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Er hofft, so der Gefahr zu entgehen, in den letzten Kriegstagen noch eingezogen und an der Front verheizt zu werden.
Das Genie aus den Augen eines einfachen Mannes
Mit Metzkows fremdem Blick schauen wir auf diesen letzten Klassiker, den Goethe der Moderne, als der er oft beschrieben wurde. Der da freilich schon ein Halbtoter ist. Mit dem Masseur machen wir uns auf den beschwerlichen Weg in das Paradies der Hauptmanns im sagenumwobenen Riesengebirge, in Rübezahls Reich. Und dort wird Metzkow mit noch größeren Augen den kleinen, grotesken Hofstaat bestaunen, der sich da, aus alter Anhänglichkeit, aber auch aus Angst vor dem, was die nahe Zukunft bringen mag, an den berühmten Herrn klammert. Und dann ist da noch die Sekretärin, die dem nicht so belesenen Masseur ein bisschen Nachhilfe gibt, ein welch außerordentlicher Mensch sein Pflegefall ist. Der nicht nur „Die Weber“, das Skandalstück „Vor Sonnenaufgang“ und den „Bahnwärter Thiel“ verfasste, sondern einschüchternd viele Dramen, Romane und Gedichte. Aus denen die Sekretärin dem Masseur zuweilen vorliest. Ein Kunstgriff, der auch dem Leser, der heute mit Hauptmann nicht mehr gar so vertraut sein mag, den Zugang erleichtern soll. Was allerdings, eine Schwäche des Romans, manchmal ein wenig ins Seminarhafte, ins Volkshochschulige abgleitet.
Aber Metzkow hat auch Augen für ganz andere Dinge, die nicht nur mit dem Haushalt der Hauptmanns zu tun haben. Für das nämlich, was in Schlesien geschieht in den letzten Kriegstagen und dann auch in den Monaten danach, als die Russen kommen und die Deutschen vertreiben. So weitet sich das Buch zu einem faszinierenden Doppelroman: der über einen großen Literaten, aber auch über den Umbruch jener Zeit, die Schrecknisse vor und nach der Kapitulation des Nazi-Reichs, über Deutsche, die zu Tausenden auf der Flucht durchs Land ziehen, und Polen und Ukrainer, die sie plündern und morden, was man in dieser Drastik bislang selten gelesen hat.
Hans Pleschinski hat schon einen Roman über ein deutsches Dichtergenie geschrieben, „Königsweg“ über den ebenfalls schon recht betagten Thomas Mann, als der 1954 in einem Hotel in Düsseldorf residiert und dort von einer alten Liebe, Klaus Heuser, aufgesucht wird. Dass Pleschinski mit seinem nächsten Roman erneut einen Großen der Weltliteratur porträtierte, sei kein Plan gewesen, betont er. Aber es ergibt in vielerlei Hinsicht Sinn. Thomas Mann war ja einer der Ersten, der in seinem epochalen Werk „Der Zauberberg“ in der Figur des Mynheer Peeperkorn eine Karikatur Hauptmanns anfertigte, die damals jeder verstand, mit all seinen Schrullen und Marotten. Mann hat sich an Hauptmann abgearbeitet, und auch der Gescholtene nimmt bei Pleschinski immer wieder Bezug auf den Gegenspieler: Wolle man doch sehen, wer als letzter Klassiker in die Geschichte eingehe.
Hitler setzte ihn auf die „Gottbegnadetenliste“
Den Kampf hat Hauptmann verloren. Aber es hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit, wenn Pleschinski nun gleich nach seinem Mann-Roman einen Hauptmann-Roman folgen lässt. Der Münchner Autor ist dafür nach Wiesenstein gereist, hat sich in das Hauptmann-Archiv, das wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hat, eingearbeitet, hat das schier unüberschaubare Werk durchmessen, auch kaum bekannte Schriften und Tagebücher aufgespürt. All das fließt ein in dieses riesenhafte Werk, das den berühmten Mann in einer Phase zeigt, in der er durch seine Senilität fast schon zur Untätigkeit verdammt ist und doch so etwas wie Bilanz zieht. Über sein umfangreiches Oeuvre. Über sein ausschweifendes Leben als Weltbürger. Aber auch über die Schattenseiten, wie er sich von den Nationalsozialisten umgarnen ließ und selbst den „Schlächter von Polen“ bewirtete. Hitler setzte ihn gar auf die „Gottbegnadetenliste“. Das hat die Literaturgeschichte Hauptmann nie verziehen.
Pleschinskis Roman spricht den Literaturen keinesfalls frei. Er beleuchtet den Dichter aus vielerlei Perspektiven mit all seinen Fehlern und Verirrungen. Und verknüpft ihn schicksalhaft mit seiner Scholle, was Gerhart Hauptmann wohl gefallen hätte. Denn wie Thomas Mann glaubte auch der Schlesier, wo er sei, da sei Deutschland.