Ewig lockt das Leid: Martin Walser veröffentlicht kurz nach seinem 91. Geburtstag das Buch „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“.
Am vergangenen Wochenende feierte Martin Walser seinen 91. Geburtstag. Das Geschenk an seine Leser ist ein Buch: Denn noch immer arbeitet Walser unermüdlich und sein neuer Roman, eigentlich für Ende April datiert, ist schon ab heute zu haben. Ein schmales Buch in Briefen, das beinahe wirkt wie ein Selbstgespräch des Autors höchstselbst. Wäre da nicht die letzte, unerwartete Wendung, die den autobiografisch gefärbten Roman als verschmitzte Rollenprosa munter Purzelbäume schlagen lässt.
Justus Mall ist im zweiten Leben Philosoph und Schriftsteller, vor allem aber Liebender. In Blog-Einträgen sehnt er sich eine „liebe Unbekannte“ herbei, die sein Dilemma verstehen kann: dass er zwei Frauen liebt, „und dass auf so verschiedene Weise, dass von Untreue nicht die Rede sein kann“. Die eine ist Gerda, seine Ehefrau seit Studententagen, diese Liebe ist „ein Sternbild, mächtig, würdig, anbetbar“. Die andere ist Meeresbiologin Silke, die ihn „wie vom Blitz getroffen“ hat, „ein Blütenschwall, ein Hochgesang, ein Zwang zur Besinnungs- und Bedenkenlosigkeit“. In mehr oder weniger schlüssig verschnörkelten Bildern also mäandert Justus Mall von der einen zur anderen Geschichte: „Dass ich Tag und Nacht im Streit liege mit den Umständen, zu denen ich es habe kommen lassen, ist der Grund meines Briefes an Sie.“
Als Leser unterwegs im Walser-Kosmos
Schon nach den ersten Sätzen sind wir wieder ganz im Walser-Kosmos. Und kreisen mit dem Briefe schreibenden Schriftsteller um Fragen der Religion, Schmerz und Schuld („Was uns weh tut, zeichnet uns aus“), um Unbehaustheit und Selbstzweifel („Mir entkommen möchte ich, aber wohin“) oder die Zumutungen des öffentlichen Diskurses („Vom Rechthabenmüssen zermürbt“). Einmal mehr gibt es einen geifernden Kritiker, Dolf Paul Alt – „von Zürich bis Hamburg kein Blatt, das ihn nicht als Kritiker beschäftigt. Als solcher unterzeichnet er immer mit den Initialen DPA.“
Da entblößt sich eine Figur, dessen autobiografischer Gehalt immens scheint, über den Streit mit Marcel Reich-Ranicki und die Debatte um die Paulskirchenrede bis hin zum Recht auf literar-erotische Fantasien: „Diese steilen Brüste, von denen ich nichts weiß, als dass sie steil waren, erlebe ich, sagen wir, wie einen gelinden Stromstoß.“ Oder „all das Vorgewölbte, Volle“ bei einer Äthiopierin: „Schon im Gesicht. Wie bei einer Kirsche im höchsten Augenblick.“ Spätestens jetzt aber schlägt die innere Gleichstellungsbeauftragte Alarm: diese Wortwahl, diese unverhohlene Reduzierung! Meint Martin Walser das ernst?
Volte hin zu einer Rollenprosa
In letzter Sekunde erst gelingt die Volte hin zu einer Rollenprosa, die Justus Mall als Summe unserer Alpträume scheinen lässt. Ein Rainer-Brüderle-Moment ließ den Oberregierungsrat Gottlieb Schall derart straucheln, dass er als Philosoph Justus Mall ein neues Leben begann: In einer Opernpause tippte er den Schenkel der jungen Frau neben sich an der Bar an, nur war die dummerweise Praktikantin bei der Süddeutschen Zeitung und mit den Mechanismen der Mediengesellschaft vertraut – da nützte es so gar nichts mehr, dass er die Missetat als „eine Geste der Anbetung, der Verehrung“, als „religiösen Akt“ verstanden wissen wollte. Auch half es nicht, das zwei Mitarbeiterinnen im Ministerium ihm lüsterne Blicke unterstellten: Sie „hätten sich nicht getraut, das zu melden, und seien froh, es jetzt endlich sagen zu können“.
Und wir Leser – fühlen uns ertappt angesichts des Schenkel-Vertippers und der aufbrandenden medialen Empörung, die man nur zu gut kennt und der man sich womöglich umgehend angeschlossen hätte. Dieser Justus Mall aber ist einer, der uns doch nur zeigt, wie er ist – logischerweise im Internet, wo noch manch wahres Ich zum Vorschein kam. Dummerweise verstehen wir ihn sehr gut, diesen (selbst-)gerechten Mall. Die große Erschütterung dieses kleinen Büchleins liegt ja im Bruch mit gefestigten Annahmen: Den zu kennen, der dort schreibt. Oder zu wissen, was Sehnsucht ist und was #MeToo. Oder sicher zu sein, sich über den Missetäter erheben, ereifern zu dürfen. Um noch einen geflügelten Walser-Satz zu zitieren: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Das gilt womöglich auch für die eine Liebe – und die andere.
Das Buch in Kürze
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt, 112 Seiten, 18 Euro.