Essen. . Jules Verne startete die erste Mondrakete und Mark Twain erfand das Internet: Wie Science Fiction uns heute schon verrät, was morgen wird

Sie glauben also, die Nasa habe die erste Mondrakete auf den Weg gebracht? Steve Jobs habe das iPad erfunden und Google die Datenbrille? Nun, es gibt kaum eine Zukunftstechnologie, die nicht lange vor ihrer Zeit schon das Licht der Welt erblickt hätte: als verrückter Einfall eines Science-Fiction-Autors. Und eben diese Verrücktheit, die Freiheit des kreativen Geistes schöpft das Projekt „Future Life“ ab, indem es Trends und Szenarien aus utopischen Romanen sammelt – und Unternehmen und Konzernen verrät, wie die Welt der Zukunft, der Markt der Zukunft aussehen könnte.

Unternehmen nutzen Science-Fiction-Wissen

Thomas Le Blanc hat als Kind Isaac Asimov verschlungen (ein Autor übrigens, der 1951, als Computer noch zimmergroß waren, den ersten Taschenrechner erdachte). Heute leitet der 65-Jährige die Phantastische Bibliothek in Wetzlar. 280 000 zukunftsweisende Bücher stehen hier, 100 000 sind für die Forschung seines Projekts „Future Life“ relevant – „der Rest sind Fantasy- oder Action-Romane“. Le Blancs Kunden sind Konzerne wie Merck und BASF oder Daimler und Audi, es sind mittelständische Handwerksunternehmen oder Wohnungsbaugenossenschaften, sie buchen Vorträge oder aufwändige, monatelange Studien. Denn Science Fiction verspricht ungehemmte Kreativität: „Ein Autor kann vor sich hin spinnen, wie er möchte.“

Und was haben sie nicht gesponnen in den vergangenen 200 Jahren! Angefangen mit Jules Verne (1828-1905), der „20 000 Meilen unter dem Meer“ ein U-Boot mit Atomantrieb fahren ließ oder rund 100 Jahre vor der realen Mondfahrt eine verblüffend ähnliche Reise „Von der Erde zum Mond“ beschrieb: Vom Startpunkt Florida über die Zahl der Astronauten und deren Erlebnisse in der Schwerelosigkeit bis hin zur Größe der Raumkapsel.

Der erste iPod und das „NewsPad“

Knapp 30 Jahre nach Vernes Mondreise kam die Idee des WWW sowie der erste iPod auf. In einer Kurzgeschichte beschrieb kein Geringerer als Mark Twain 1898 ein globales Kommunikationsnetzwerk, das „die täglichen Angelegenheiten der Welt jedem sichtbar machte“. Einen kleinen, flachen Mediaplayer mit Bildschirm erdachte H.G. Wells im Roman „Wenn der Schläfer erwacht“ (1899) – und wer dort Musik kaufte, konnte längst mit Kreditkarte bezahlen: Über 50 Jahre, bevor der Diners Club die erste Universalkarte einführte, hatte sie Edward Bellamy in seinem „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ beschrieben.

Nur auf die kleinen, praktischen Ohrstöpsel für den Musikgenuss mussten Leser länger warten, nämlich bis 1950: „Kleine Muscheln“, „fingerhutgroße Radios“ nutzten die Menschen in Ray Bradburys „Fahrenheit 451“. Immerhin konnten sie die In-Ear-Kopfhörer dann auch schon in ein iPad stöpseln: Das „NewsPad“ führte Arthur C. Clarke 1953 in einer Short Story ein, was vielleicht der Welt verborgen geblieben wäre, hätte er nicht später einen Roman daraus gemacht, der dann von Stanley Kubrick verfilmt wurde: „2001: Odyssee im Weltraum“ zeugt ebenfalls bereits von der Furcht, künstliche Intelligenz (HAL 9000!) könnte bald die Welt regieren.

Science Fiction als „Spiegel der Gegenwart“

Denn Science Fiction, weiß Thomas Le Blanc, „ist immer auch ein Spiegel der Gegenwart“, von der Technikbegeisterung der frühen Jahre über die Alien-Schlachten zu Zeiten des Kalten Krieges bis hin zur Überwachungsangst eines George Orwell – „1984“ thematisierte bereits 1948 Fake News und steht darum derzeit in den USA wieder auf den Bestsellerlisten. In Philip K. Dicks Story „Minority Report“ (1956) geht es um die Vorhersagemöglichkeit von Verbrechen (heute ebenso Praxis wie die in Steven Spielbergs späterer Verfilmung dargestellte gestische Steuerung von Computerprogrammen). In den 80er-Jahren dachte schließlich eine „grüne“ Science Fiction über die Ressourcen der Welt nach.

Zeitgenössische Autoren wie etwa Dave Eggers („The Circle“) beschäftigt die „Datenkrake Google“ – deren Datenbrille übrigens Michael J. Fox als Marty McFly in „Zurück in die Zukunft II“ schon 1989 auf der Nase hatte, also lange vor Googles Gründung. Große Einigkeit herrsche bei modernen Science-Fiction-Autoren, so Thomas Le Blanc, zudem über die Frage der Mobilität: „Es gibt keine Verbrennungsmotoren mehr, der Elektromotor ist Normalität. Es wird Individualfahrzeuge geben, aber die werden robotergesteuert sein und von uns nur noch gemietet werden.“

Sci-Fi-Studie für Kosmetikkonzern

Fragen nach neuen Technologien stellen Le Blancs Kunden allerdings zunehmen seltener. „Es geht eher darum, wie lebt der Mensch, wie denkt der Mensch“ – und dahinter die bange Angst: „Ist mein Produkt noch von Interesse“? Etwa die Studie für einen Kosmetikkonzern („Das hatten wir so auch noch nicht“): Der will wissen, welches Körpergefühl der künftige Mensch haben wird – „schicke ich nur noch meinen Avatar in die Welt, oder bin ich weiterhin ein soziales Wesen?“ Das Ergebnis: „Wir gehen sehr kreativ mit unserem Körper um, sind aufgeschlossener als heute und machen die verrücktesten Dinge“, so Le Blanc – ob dies nun „Bemalungen, Tattoos oder technische Add-Ons“ sind.

Wir werden ja auch sehr viel Zeit haben in Zukunft. Weil dann Roboter einen volkswirtschaftlichen Reichtum schaffen, den man heute nur von Öl-Emiraten kennt – und der ein Grundeinkommen für alle sichert. „In der heutigen Realpolitik gibt es ja Ängste, die Faulheit der Menschen betreffend“, sagt Le Blanc. „Aber die Mehrheit der Science-Fiction-Autoren ist sehr positiv gestimmt: Es wird genügend Menschen geben, die trotzdem gerne ihrem Beruf nachgehen.“

Was für eine erlesene Vision!