Essen/Gelsenkirchen. . 13 Produktionen, 34 Vorstellungen - die enorme Bandbreite der Tanzplattform begeisterte. Ein Rückblick aufs Festival in Essen und Gelsenkirchen.
Der eine hat eine künstliche Hüfte. Die andere ist körperbehindert, sie braucht Krücken. Und ihr Tanz? Hinreißend, faszinierend! Die Fragen, die Jess Curtis und Claire Cunningham an den Tanz stellen, gelten der Wahrnehmung. Wer kann tanzen? Wie schauen wir auf Tanzende? Damit definieren sie einen Impuls der „Tanzplattform“, die am Sonntag, nach 34 Vorstellungen 13 eingeladener Produktionen und knapp 50 Veranstaltungen endete. Nämlich den Impuls, über Körper und Choreografie neu nachzudenken.
Essayperformance vom Tanzkollektiv war Gast des Festivals Tanzplattform Essen/Gelsenkirchen
Für „The Way You Look (at me) Tonight“ haben sich die schottische Künstlerin und der in Berlin lebende amerikanische Choreograf zum ersten Mal zusammengetan, nachdem Cunningham 2005 durch Curtis und die Kontaktimprovisation zum Tanz gefunden hatte. Es ist ein unglaublich charmantes – sichtbar „anders“ aussehendes – Duo. Cunningham erklärt, dass sie über ein eigenes Bewegungsvokabular verfügt. Und sie zeigt es dem Publikum, das teilweise mit auf dem Boden der Bühne sitzt. Sie nutzt die Krücken als Stuhl, dreht eine Pirouette, gleitet geschmeidig wie ein Skater durch den Raum und über Beine. Manche Szenen geraten zu lang, neigen zum Überschwang. Aber der Abend – beratend unterstützt vom Philosophen Alva Noë – ist intelligent und witzig, berührend und die eigene Sichtweise herausfordernd.
Und er ist programmatisch für die Tanzplattform, die vom Choreografischen Zentrum Pact Zollverein in Essen ausgerichtet wurde. Alle zwei Jahre findet diese Bestenschau zeitgenössischen, frei produzierten Tanzes statt. 2018 lud die Jury Produktionen ein, die den Körper in der Gesellschaft befragen. Welchen Zugang habe ich zum zeitgenössischen Tanz, wenn ich Krücken zum Laufen brauche, wenn ich schwarz bin (Ligia Lewis’ „minor matter“, Richard Siegal/Ballet of Difference) oder über 40 (Dance On Ensemble)? Da gibt es bewegende Momente, die mehr als bloß den Tanz betreffen. Die auch intellektuell den Weg ebnen zu Diskussionen im Austauschformat „Assembly“, wo mit Künstlern und Wissenschaftlern über technische Entwicklungen des Körpers oder gesellschaftliche Bedingungen diskutiert wurde.
Physisch zu erleben gab es den pulsierenden Körper bei CocoonDance („Momentum“) oder den skulpturalen Körper bei Xavier Le Roy („Temporary Title, 2015“). Bedenkenswert waren politische Inszenierungen wie Claudia Bosses „The Last Ideal Paradise“ oder die großartige Essayperformance „Situation mit Doppelgänger“ vom Kollektiv Hauptaktion. In Julian Warners und Oliver Zahns Auseinandersetzung mit Minstrel-Tänzen und Schuhplattler bekommen Begriffe wie Aneignung und Authentizität neue Dimensionen, durchaus humorvoll.
Kraftstrotzende Körperakrobaten waren genauso zu sehen wie Bewegung auf Krücken
Es gab die großen Namen – wie Sasha Waltz mit „Kreatur“ oder Bruno Beltrão als Shootingstar. Der brasilianische Choreograf transformiert Hip-Hop-Codes in zeitgenössischen Tanz, „Inoah“ ist schnell, intensiv, spannungsgeladen. Seine allesamt männlichen Tänzer sind kraftstrotzende Körperakrobaten. So unangemessen diese massive Männlichkeit in Zeiten der #MeToo-Debatte auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so intensiv ist auch hier ein ganz wesentlicher Aspekt von Körperlichkeit demonstriert: Tanz ist immer auch ein Akt der Befreiung.