Oberhausen. Theater Oberhausen zeigt des nachgelassene Fragment des „Tschick“-Autors Wolfgang Herrndorfs mit einer dreifachen Isa.
Hundert Tage hat das neue Team im Theater Oberhausen sich Zeit gelassen mit der Wahl dieses Stückes – mal schauen, was das Publikum hier so will, welches Thema gerade nach vorn drängt. Und dann kommt, buchstäblich zu Füßen des Publikums, eine dreifache Stadtstreicherin unter den Stuhlreihen des kleinen Saals herausgerobbt, unter allerlei Gestöhne und Geschnaufe. Und dampfplaudert derart dreifach los, dass man schier irre wird. So irre wie Isa, die längst weiß, dass Verrücktsein so ist wie Hunger oder Durst – „das kommt ja auch in Schüben“. Und geht auch wieder, irgendwann.
„Bilder deiner großen Liebe“ heißt das Romanfragment, das der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf nach seinem krebsbedingten Selbstmord hinterließ. Es erzählt die Geschichte von Isa, die den Jungs aus „Tschick“ begegnete. Und vielleicht mehr noch als „Tschick“, das in jüngster Zeit das meistgespielte Stück an deutschen Theatern war (vor Schiller!, vor Shakespeare!), passt Isas brüchige, sprunghafte Erzählung auf die Bühne. Zumal in jener Oberhausener Dreieinigkeit, in der Isas facettenreiche Persönlichkeit eindrucksvoll aufgefächert wird: Gibt Susanne Burkhard die tough-trainierte Outsiderin, reflektiert Elisabeth Hoppe Isas „#MeToo“-würdige Begegnungen, während Nina Karimy mit Gefühl und Wärme und Humor die schärfsten Wunden zu heilen vermag.
Der Beweis, dass es Wunder gibt
Denn ja, dieser Abend schmerzt. Knapp anderthalb Stunden lang irrt Isa nach der Flucht aus dem umzäunten Leben durch Wälder, hält mit dem Daumennagel den Lauf der Sonne auf, schneidet sich die Fußsohlen auf, flieht halbnackt vor grölenden Fußballmannschaften, sucht auf Müllkippen nach Essen und starrt den Himmel an, der wie ein Sieb ist „mit unendlich vielen winzigen Löchern, durch die Licht ferner Welten scheint“ – Löcher, die die Frauen in jene Kulisse gebohrt haben, die sie später abreißen werden. Immer wieder reißen sie auch an ihren Zuschauern, toben durch die Reihen, locken aus der Reserve. Holen sie gar auf die Bühne, als Trost spendende (und Popcorn essende) Zuhörer einer Geschichte von Verrat, Liebe und Treue. Oder auch (in diesem Fall ist die Spontaneität geprobt) als Beweis dafür, dass es Wunder gibt – wenn die Rollstuhlfahrerin (Karin Erwig) wieder laufen und sogar tanzen kann.
(Haus-)Regisseurin Babett Grube hat in Hannover „Tigermilch“ auf die Bühne gebracht, das Romandebüt der aus Oberhausen stammenden Autorin Stefanie de Velasco: Auch sie erzählt von Mädchen, die ihre Innenwelt gegen die Außenwelt behaupten, die für und gegen ihre Grenzen kämpfen, sich erproben und behaupten. Die 14-jährige Isa könnte eine Freundin dieser beiden sein, und vielleicht hatte Grube mit der Verdreifachung ihrer Figur genau dieses im Sinn: Isa nicht ganz so allein zu lassen. Herrndorfs Schlussbild, in dem Isa einen senkrechten Schuss abfeuert und die Kugel genau in den Lauf zurückkehrt, hat die Bühnenfassung dankenswerterweise erhalten. Die Kugel, die sich „aus dem Verschwundensein wieder materialisiert“, der Kreis, der sich schließt: Mit dieser kleinen Hoffnung auf Heilung und Sinn endet ein Theaterabend, der nicht nur jugendliche Zuschauer zutiefst zu berühren vermag.