Essen. . Mit 77 Jahren legt die Sängerin ein neues Album vor: „Whistle Down The Wind“. Im März beginnt die große Abschiedstournee der Joan Baez

Vier Jahrzehnte lang war Joan Chandos Baez die First Lady der Friedensbewegung. Die Folksängerin aus Staten Island/New York scheute keinen Konflikt und fühlte sich für alles und jeden verantwortlich: 1959 wird sie beim Newport Folk Festival entdeckt. 1963 marschiert sie beim „Civil Rights March“ in Washington Seite an Seite mit ihrem Vorbild Martin Luther King. 1979 ruft die strittige Linke die Menschenrechtsorganisation „Humanitas International Human Rights Committe“ ins Leben.

Die amerikanische Regierung stuft die Protestsängerin als Sicherheitsrisiko ein und steckt sie für 45 Tage ins Gefängnis. Ihre Platten werden aus den Läden verbannt. Doch griffige Protestsongs wie „We Shall Overcome“ oder „Where Have All The Flowers Gone“ waren da längst Liedermacher-Hits, ohne die kein lagerfeuer-Gitarrist denkbar wäre. Sie waren einprägsam und prägnant, das erklärt ihren Erfolg bei allen Schichten der Bevölkerung. Selbst ihr ehemaliger Liebhaber Bob Dylan wurde erst bekannt, als er ihre Songs sang. Akustische Alben wie „Joan Baez“ (1960), „Farewell, Angelina“ (1965) und „Diamonds And Rust“ (1975) machten sie zu einer der wichtigsten Figuren der amerikanischen Musikszene.

Beziehung mit dem 14 Jahre jüngeren Steve Jobs

Nach außen wirkt die sanfte Kämpferin stets zuversichtlich. Selbst dann noch, als ihr Ex-Mann und Mitstreiter David Harris zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wird. Tatsächlich aber ist die Ikone des Folk die meiste Zeit ein psychisches Wrack: Panikattacken, Schlaflosigkeit, Phobien. Die 1970er verbringt sie abwechselnd mit Therapien und Tourneen. In den 1980ern fehlt es ihren Platten immer mehr an Ausdruckskraft und Intensität. Sie bringt zehn Jahre keinen neuen Song zu Papier: Schreibblockade. Selbst in diesem Zustand muss ihre Ausstrahlung riesig gewesen sein: Der junge Steve Jobs, den Baez Anfang der 80er Jahre kennenlernte, war so fasziniert von der sanften Entschlusskraft der aufrechten Fiedenskämpferin, dass sie zu den wenigen Menschen zählte, die respektablen Einfluss auf ihn hatten: In der Zeit, in der er den legendären Macintosh schuf, hatte Jobs eine Beziehung mit der 14 Jahre älteren Künstlerin. Viele seiner Ideale von einer besseren Welt, die er damals mit diesem Computer verband, wurzeln in dieser Seelenverwandtschaft.

Zu den Folk-Wurzeln zurückgekehrt

Auch in den 90er Jahren schart die Sängerin rebellischen Nachwuchs um sich: Michael Moore, Sänger und Songschreiber Steve Earle und Rage Against The Machine-Mastermind Tom Morello. „Diese Leute betrachten die Welt mit jüngeren Augen“, erklärt die gereifte Sängerin mit dem klaren Tremolo. „Das war mir sehr wichtig, denn ich wollte für eine gewisse Zeit in diese Generation hinein schlüpfen.“ Nach Ausflügen in den Rock ist sie mittlerweile zu ihren Folk-Wurzeln zurückgekehrt. „Ich würde doch lächerlich klingen mit einer Rock’n’Roll Band im Rücken“, glaubt sie.

Joan Baez ist inzwischen 77 Jahre alt und will definitiv keine Protestsängerin mehr sein, aber sie nimmt immer noch kein Blatt vor den Mund: „Die jungen Leute wissen gar nicht mehr, wofür sie sich einsetzen sollen, weil überall alles schief läuft.“ Das politische Interesse will sie Spätgeborenen durchaus nicht absprechen, aber sie vermisst die unterstützenden Hymnen. Wo bleibt ein ‚Imagine‘ oder ein ‚Blowing In The Wind‘? Von den kämpferischen Songs will sie sich deshalb nicht ganz lösen; Dylan-Klassiker wie „It’s All Over Now, Baby Blue“ und „Farewell, Angelina“ sind fester Bestandteil ihres Konzertprogramms. Jedoch hält sie diese Songs nicht mehr für relevant im politischen oder gesellschaftlichen Sinn. Ihr ist es auch nie darum gegangen, mit Liedern Menschen anzuleiten. „Ich habe die Welt schon als junger Mensch sehr nüchtern betrachtet“, sagt die Sängerin. „Mir war immer klar, welche Schäden der amerikanische Lebensstil andernorts anrichtet. Die quasireligiöse Überhöhung von Konkurrenz auf allen Gebieten ist schlimm“.

Mit Ex-Lover Bob Dylan in Scorseses Dok-Film

Martin Scorseses Dokumentation „No Direction Home“ aus dem Jahr 2005, in der Joan Baez eine tragende Rolle spielte, hat ihr ihren Ex-Lover Bob Dylan wieder näher gebracht. „Nachdem ich mir die ersten beiden Stunden angeschaut hatte, wurde ich richtig glücklich, denn ich betrachtete uns Babys mit den Augen einer Großmutter. Bob und mich noch einmal zusammen zu sehen, war für mich das das Schönste an diesem Film.“

2004 wurden die warmherzige Baez und der mürrische Dylan für ihr Engagement in der Anti-Vietnamkriegsbewegung mit dem World Peace Music Award ausgezeichnet. Das Alter hindert die beiden Ikonen nicht daran, weiter um die Welt zu tingeln und manchmal kreuzen sich die Wege des Traumpaares der Folkbewegung sogar. „Wenn es einmal passiert, dann unterhalten uns eine Weile und lachen.“

Zuletzt geschah dies vor sieben Jahren im Weißen Haus. Die Obamas präsentierten dort einen Abend mit Musik aus der Ära der amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Neben Joan Baez und Bob Dylan standen John Mellencamp, Smokey Robinson, Seal und die Blind Boys Of Alabama auf der Bühne. Nicht nur an dem Tag sprühten ihre Augen wie bei einem Teenager. Ihr Gedächtnis ist phänomenal, praktisch zu jedem signifikanten Ereignis in der amerikanischen Politik seit den frühen 1960ern kann sie auf Knopfdruck die Namen der beteiligten Personen nennen oder darlegen, welche Rolle sie selbst dabei spielte.

Erfolgreiche Anti-Trump-Hymnen

Mit erfolgreichen Anti-Trump-Hymnen wie „Nasty Man“ hat sich bei Baez inzwischen wieder die alte Form ein gestellt. Sie findet, dass ein Song ermutigen und für eine gewisse Erleichterung sorgen kann, „weil man weiß, dass man mit seinen Sorgen nicht allein ist.“ Auf ihrer diesjährigen Konzertreise wird sie auch Lieder von ihrem aktuellen Studioalbum „Whistle Down The Wind“ präsentieren. Darauf interpretiert sie Stücke von Tom Waits, Joe Henry oder Mary Chapin Carpenter. Noch immer nimmt ihre Stimme gefangen durch diesen vollen, warmen Vibrato, doch ist sie etwas tiefer geworden. Ihren Erkennungssong „We Shall Overcome“ singt Joan Baez heute kaum noch. Sie möchte vermeiden, zur Fahnenträgerin der Nostalgie zu werden. „Es nervt mich, wenn ich als Legende abgestempelt werde. Werde ich mit jener Zeit in Verbindung gebracht und gleichzeitig als lebendige, frische Künstlerin wahrgenommen und respektiert, kann ich damit gut leben“, erklärt sie. Der musikalische Aspekt an ihren Songs ist ihr heute genauso wichtig wie deren Botschaft.

Voriges Jahr wurde Joan Baez in die Rock And Roll Hall Of Fame aufgenommen. Das klassische Klischee einer Rockerin erfüllt sie ganz sicher nicht, aber sie liebt es bis heute, gegen ihr Image anzukämpfen. Als die resolute Dame vor ein paar Monaten mit ihrem Sohn Gabe in Neuseeland weilte, ließ dieser sich ein Tattoo stechen. Joan Baez wollte nicht nachstehen und ließ sich ihr Handgelenk mit Kreisen und Pfeilen verzieren. Mit 77 Jahren, da fängt das Leben an.