Essen. . Gekrönt mit dem Goldenen Löwen: Lav Diaz’ Vier-Stunden-Film „The Woman Who Left“ erzählt von Rache – und Solidarität.
Der philippinische Filmemacher Lav Diaz gehört sicherlich zu den berühmtesten Regisseuren des modernen Weltkinos. Seine Werke laufen auf allen großen Filmfestivals. Mit „From What Is Before“, seinem überwältigenden Porträt der ersten Wochen der Marcos-Diktatur, hat er 2014 in Locarno den Golden Leoparden und drei weitere Auszeichnungen gewonnen. Und für „The Woman Who Left“ wurde er 2016 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Trotzdem sind Diaz und seine Filme bisher nur einem relativ kleinen Kreis von Filmfans ein Begriff. Denn die meisten seiner Arbeiten sind oft weit mehr als sechs Stunden lang. „The Woman Who Left“ ist erst der zweite seiner Filme, der den Weg in die deutschen Kinos gefunden hat. Was sicher auch daran liegt, dass dieses von Tolstois Kurzgeschichte „Ein Verbannter“ inspirierte Rachedrama mit knapp vier Stunden im Diaz’schen Kosmos fast schon ein Kurzfilm ist.
Haft für einen Mord, den eine andere beging
30 Jahre hat die Lehrerin Horacia (Charo Santos-Concio) für einen Mord, den sie nicht begangen hat, im Gefängnis verbracht. Sie ist damals einer Intrige eines früheren Verehrers zum Opfer gefallen, die sich erst aufklärt, als die wahre Mörderin ihre Tat gesteht. In diesen 30 Jahren hat Horacia praktisch alles verloren. Ihr Mann ist gestorben, ihr Sohn spurlos verschwunden, ihr Haus verfällt langsam. Nur zu ihrer Tochter kann sie wieder Kontakt aufnehmen.
Also macht sie sich auf die Suche nach Rodrigo Trinidad, der ihr einst ihr Leben gestohlen hat. Sie will sich rächen. Doch der Geschäftsmann wird ständig von Leibwächtern bewacht. Also muss Horacia warten, bis sich ihr eine Gelegenheit bietet.
Lav Diaz begleitet die im Gefängnis alt gewordene Frau auf Schritt und Tritt und taucht mit ihr in eine Schattenwelt ein. Während Horacia den ebenso reichen wie mächtigen Rodrigo beobachtet und verfolgt, lernt sie immer mehr Menschen kennen, die ihr Leben an den Rändern der philippinischen Gesellschaft fristen. Ihre nächtlichen Gespräche mit einem Straßenverkäufer und ihre Begegnungen mit einer an Epilepsie leidenden Transgender-Prostituierten eröffnen Horacia eine andere Perspektive auf ihre Vergangenheit, ihre Zukunft.
Ergreifendes Gesellschaftspanorama
In eleganten Schwarzweißbildern erzählt Diaz von den Ausgestoßenen und Abgehängten, die Horacia eine neue Heimat geben, und beschwört dabei auf eine unsentimentale Weise eine Vision einer anderen Gesellschaft herauf. Unter denen, die ihren Platz in der korrupten und ausbeuterischen Ordnung der Philippinen verloren haben, herrscht eine Solidarität, die neue Hoffnungen weckt. So verschiebt sich nach und nach der Fokus der Erzählung. Aus der Rachegeschichte wird ein zutiefst ergreifendes Gesellschaftspanorama.