Julia Schochs Roman „Schöne Seelen und Komplizen“ fragt, was der Zusammenbruch eines Staates fürs eigene Leben bedeutet.
Sie heißen Lydia und Ruppert, Kati, Vivien und Tomas, sie stehen vor dem Abitur an einem Potsdamer Elitegymnasium, vor der großen Freiheit des eigenen Lebens – aber dann kommt die Freiheit noch etwas schneller, noch etwas größer daher als erwartet. Die „EOS Käthe Kollwitz“ nennt sich nun „Luisenschule“, und jeder Schultag ist „wie der letzte vor den großen Ferien“.
28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage stand die Mauer. Ziemlich genau 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage später vollzieht Julia Schochs Roman einen ebenso großen Sprung: Im ersten Teil erzählen 16 jugendliche Ich-Erzählerinnen und Erzähler aus den Jahren 1989 bis 1992, im zweiten Teil vom „Heute“ – und in diesem Heute verbinden sich ihre Lebensläufe einmal mehr, durch zufällige Begegnungen und ein Klassentreffen.
„Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen“
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, erweist sich einmal mehr als eine Meisterin der psychologischen Innensicht. Wenn sie in ihre Figuren springt, entfaltet sich im kurzem Schlaglicht weniger Seiten ein jäher Lebensroman. Da ringt Schülerin Lydia in der Theatergruppe mit ihren (Liebes-)Sehnsüchten, denen auch der Romantitel entspringt (mit dem Sartre-Zitat: „Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich.“) Jahre später irrt sie an der Seite eines Mannes durch Paris, mit dem sie aber vor allem die gemeinsame Vergangenheit verbindet – denn diese „pappt mir an wie Grieß“.
„Irgendwann ist man einfach der, der man ist“
Derart leicht durchschaubare Ursache-Wirkungs-Prinzipien sind selten in Schochs Roman; ihre Kunst ist eher das Diffuse, Nichtgreifbare. Wenn sie knapp dreißig Jahre später das Netz der Charaktere neu verknüpft, fragt sie zwar nach dem Politischen im Privaten: Was bedeutet es für das Leben, wenn mit der Jugend auch der Staat endet, in dem man aufgewachsen ist? Doch ist ihre Antwort vielstimmig – da erzählt die eine vom „heimischen“ Gefühl der Unfreiheit an der russischen Grenze, eine andere vom fehlenden Engagement der Nachbarn in den Gemeinschaftsgärten, ein dritter von einer Überangepasstheit, die sich als Ausprobieren tarnt: „Man spielt ein Gefühl so lange, bis man es tatsächlich hat“ – zum Glück: „Irgendwann ist man einfach der, der man ist.“
„Später alles auf heute schieben“
Solche lapidaren Sätze wirft Julia Schoch immer wieder mal ein. Erfrischend unaufgeregt begleitet sie ihre Protagonistenschar, die – und das ist dann vielleicht doch eine Art greifbares Fazit – viel zu sehr mit sich beschäftigt ist, um über die große welthistorische Zäsur nachzusinnen. „Wir können später alles auf heute schieben“, dämmert es einmal einem der Schüler, kurz nachdem die Klasse das neue Checkpoint-Charlie-Museum besucht hat – „alles Schlechte, wenn wir unglücklich sind oder unzufrieden“. Alles Gute aber auch – wie diesen stillen, feinen Roman.
Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen. Piper, 320 S., 20 €