Essen. . Es fing mit den antiken Mythen an, ging mit Märchen weiter und ist heute voll im Horrorfilm: „Menschen brauchen Monster“, sagt die Wissenschaft.

Noch heute beschleicht manche Eltern ein leichtes Unbehagen, wenn sie ihrem Nachwuchs die Märchen der Brüder Grimm vorlesen. Hänsel und Gretel, die im Wald ausgesetzt werden, Wölfe, die nicht nur kleine Ziegen, sondern ganze Menschen vertilgen, dazu noch ein Sammelsurium an bösartigen Stiefmüttern und anderen finsteren Zeitgenossen: Stoffe, die zartbesaiteten Gemütern zu schaffen machen können.

Vor gut vierzig Jahren hat Bruno Bettelheim diese Sorgen mit dem Buch „Kinder brauchen Märchen“ (1976) zerstreut. Es wird kein Zufall sein, dass der Wissenschaftsjournalist Hubert Filser für sein Buch über die Welt der Ungeheuer einen ganz ähnlichen Titel gewählt hat: „Menschen brauchen Monster“ ist eine kenntnisreiche Ausein­andersetzung mit der Frage, warum sich die Menschen seit der frühen Steinzeit Wesen ausdenken, die gleichermaßen beängstigend wie faszinierend sind.

Bestien und Ungetüme mit einem bestimmten Sinn

Neben Mythen und Sagen bieten vor allem Literatur und Kino eine Vielzahl an Bestien und Ungetümen, die laut Filser ausnahmslos einen bestimmten Sinn erfüllten. Monster aus der Natur stünden für mögliche Gefahren in unbekannten Gebieten (King Kong) oder aus dem All (Aliens) sowie für Kräfte, die der Mensch entfesselt hat (Godzilla als Menetekel der Atomenergie). Erschaffene Monster (Frankensteins Kreatur, der Golem, Terminator) seien eine Warnung davor, die Grenzen der Wissenschaft zu überschreiten. Innere Monster (der prototypische Mr. Hyde, aber auch die Teenagermörder aus Filmreihen wie „Halloween“, „Nightmare on Elm Street“ oder „Scream“) repräsentierten die dunkle Seite des Menschen.

Während man die Geschöpfe aus dem Reich der Untoten (Dracula, Nosferatu) vielleicht als Schatten der Vergangenheit bezeichnen könnte, betrachtet Filser die Zombie-Filme von George A. Romero („Die Nacht der lebenden Toten“, 1968, „Zombie“, 1978) als Reaktion auf die Folgen der Umweltzerstörung. Alle diese Wesen böten die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Ängsten auseinanderzusetzen.

Heute womöglich noch mehr als früher

Die These klingt sehr plausibel. Aber hält sie auch einer eingehenden Betrachtung stand? Durchaus, findet der Augsburger Erziehungswissenschaftler Ben Bachmair, und das heute womöglich noch mehr als früher: „Der Mensch braucht Sinnstrukturen, die der Alltag allein nicht liefert.“ Mythen hätten den Menschen schon immer geholfen, „den Sinn ihres Handelns auf einem einfachen Niveau herzustellen. Sie erinnern uns daran, dass es nicht nur ein Diesseits, sondern auch ein Jenseits gibt.“

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Die alten Griechen hätten zu diesem Zweck die Welt der Götter und die Unterwelt des Todes herangezogen. In unserer heutigen säkularen Welt hätten die Medien diese Rolle übernommen. „Der Mensch lebt ständig mit der Angst, sein Alltag könne in Gefahr geraten: Der Boden bricht weg, und wir purzeln geradewegs in die Hölle. Berichte über Katastrophen und Tragödien sorgen dafür, dass wir diese Angst nie verlieren, weil sie uns daran erinnern, dass unsere Sicherheit trügerisch ist. Unsere Welt ist durchtechnologisiert, aber wir ahnen: Es gibt noch eine zweite Ebene; und dieser Ebene geben Romane, Filme oder Computerspiele ein Monstergesicht.“

Hitchcocks Abgründe des Alltags

Der Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger (Marburg) hält nicht nur Filsers Theorie, sondern auch seine Einteilung der Monsterwelt für äußerst einleuchtend, wie er am Beispiel von Mary Shelleys vor exakt 200 Jahren veröffentlichtem Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ erläutert: „Kernmotiv ist die tief verwurzelte Angst des Menschen in der Frühzeit der Industrialisierung vor den neuen technologischen Möglichkeiten. Frankensteins aus Leichenteilen zusammengesetztes und mit Hilfe von Elektrizität zum Leben erwecktes Monster ist der Versuch, einer diffusen Angst ein Gesicht zu geben und sie auf diese Weise beherrschbar zu machen.“

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Der Diplom-Psychologe und Autor Gerhard Bliersbach interessiert sich mehr für die Rolle, welche die filmischen Ungeheuer für tief verwurzelte Ängste spielen: „Monster sind Symbolisierungen unserer archaischen Ängste, die schwer zu greifen sind. Sie basieren auf ganz frühen Erfahrungen, etwa der Existenzangst, die einen Säugling befällt, wenn seine Bedürfnisse nicht in gewohnter Weise gestillt werden. Diese Ängste stecken uns auch später noch in den Knochen und können jederzeit wieder zum Leben erwachen. Deshalb schauen wir mit wohligem Gruseln zu, wenn wir uns in der Sicherheit eines Kinosaals oder des Wohnzimmers befinden und sich jemand anders mit solchen Ängsten rumplagen muss.“ Das Gesamtwerk Alfred Hitchcocks lebe geradezu davon, „dass sich im Alltag Abgründe auftun, die am Ende aber doch noch irgendwie überbrückt werden.“

Für Kinder nur altersgerechte Monster

Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, München), warnt jedoch davor, Kinder mit Monstern zu konfrontieren, die nicht altersgerecht seien. Diese Ungeheuer hinterließen möglicherweise lebenslange Folgen. Erwachsene, die sich jedes Mal überwinden müssen, in einem dunklen Gewässer zu schwimmen, weil dort aller Logik zum Trotz ein weißer Hai lauern könnte, wissen, wovon die Wissenschaftlerin spricht.