Gelsenkirchen. Premiere vor Heiligabend, auch wenn die Geschichte die Passionszeit bedeutet. Das Premierenpublikum in Gelsenkirche feiert „Jesus Christ Superstar“ stürmisch.

Bevor das Premierenpublikum seiner Begeisterung in einem minutenlangen Jubelsturm Ausdruck verschafft, ein kurzer Moment der Besinnung, des Überdenkens verfestigter Bilder. So neugierig wie orientierungslos betreten da ein paar Touristen-Besucher einen kahlen Raum, der jetzt Kirche sein soll und doch kaum mehr ist als ein weitgehend atmosphäreloser Funktionsraum, und umrunden schweigend das riesige Kreuz mit dem Leidensmann. Das ist Christus, wie wir ihn gemeinhin sehen, in all seiner ikonografischen Verkürzung.

Mitreißend, bis ins Detail stimmig ist Michael Schulz’ Deutung von „Jesus Christ Superstar“

In den vorangegangenen rund 100 pausenlosen Minuten hingegen hat MiR-Intendant Michael Schulz in einer mitreißenden, bis ins Detail stimmigen Inszenierung Jesus gezeigt, wie dieser möglicherweise wirklich war, wie er unter anderen Umständen vielleicht hätte sein können und wie sein Umfeld ihn wahrnahm. Ohnehin haben Andrew Lloyd Webber und Songtexter Tim Rice in ihrer 1971 aus dem Geist der Hippie-Ära entstandenen Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ über die letzten sieben Tage im Leben Christi weniger auf das Göttliche als auf die menschlichen Aspekte abgestellt.

Am Musiktheater, wo die englischsprachige Fassung (deutsche Übertitel) gezeigt wird, ist das Geschehen in eine nicht näher bestimmte Gegenwart verlegt. Hauptspielstätte ist eine Art Garagen-Hinterhof, der zunächst unscheinbar wirkt und doch so unendlich viele Möglichkeiten für eine Inszenierung eröffnet, die bewusst auf (durchaus mögliche) Anbiederung an das Musical-Genre verzichtet und konsequent die Qualitäten dieser ersten „echten“ Rock-Oper (Ouvertüre, große Chorszenen, ariose Balladen) ausspielt.

100 pausenlose Minuten bannen das Publikum am Musiktheater im Revier

Den kleinen, intimen Zwiesprachen etwa zwischen Jesus und Judas über den „Kurs“, den die neue Bewegung einschlagen soll, oder dem verzweifelten Selbstgespräch Maria Magdalenas („I don’t know how to love him – Wie soll ich ihn nur lieben“) verhilft Schulz hier zu einer beispielhaften Intensität. Und die dynamischen Massenszenen, bei denen der wieder exzellente Opernchor und die Statisterie des Musiktheaters die Weite des Raumes nutzen können, sind optisch wie musikalisch überwältigend. Wenn die Gemeinde sich etwa, wie in blinder Heldenverehrung, zu einer Art skandierendem Jesus-Fan-Club zusammenschließt. Oder wenn der erklärte Rom-Gegner Simon von Jesus fordert, endlich auch politisch aktiver zu werden, und dabei die Kalaschnikow schwingt. Gelegentlich fährt die Bühne hoch und gibt den Blick frei auf eine in geradezu höllischem Rot erstrahlende „Unterwelt“. Doch die hier konferieren und Ränke schmieden – Christus-Gegner wie Kaiphas und Hannas – sind ganz reale Figuren: skrupellose „Anzugträger“, nüchtern planende Machtmenschen, die um den Verlust ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses, ihrer sozialen Stellung fürchten.

Begeisternde Band, starke Stimmen - die musikalische Leistung hat ein ganz hohes Niveau

Lloyd Webbers Rock-Oper, für die am MiR eigens eine ganz hervorragende Band zusammengestellt wurde, stellt enorme stimmliche und darstellerische Anforderungen an Sängerinnen und Sänger. Und hier hat das Team um Michael Schulz nicht nur mit der Besetzung von Therese Weber (Maria Magdalena) und Serkan Kaya (Judas) einen wahren Glücksgriff getan. Star des Abends freilich ist Henrik Wager in der Titelrolle. Wie der klassisch ausgebildete Brite vom Rockballaden-Ton in jene Kopfstimmen-Höhen vordringt, die in dieser Reinheit und Klarheit wohl einst nur Deep-Purple-Sänger Ian Gillan erreicht hat, das verdient uneingeschränkt das Prädikat Weltklasse.

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Bis zum 6. Mai steht „Jesus Christ Superstar“ in Michael Schulz’ Inszenierung insgesamt noch 13 Mal auf dem Spielplan des Großen Hauses im Musiktheaters im Revier, Kennedyplatz, Gelsenkirchen.

Die nächsten Termine im Großen Haus: 31.12. (19 Uhr); 7.1. (18 Uhr), 13.1. (19.30 Uhr); 21.1. und 28.1. (jeweils 18 Uhr). Karten ab 16 € gibt es unter 0209/40 97 200. Weitere Informationen im Internet: www.musiktheater-im-revier.de