Vor einhundert Jahren, am 21. Dezember 1917, kam Heinrich Böll zur Welt. Der Nobelpreisträger wurde zur Symbolfigur einer engagierten Literatur.
„Geboren bin ich in Köln, am 21. Dezember 1917, im schlimmsten Hungerjahr des Weltkrieges“, heißt es in einem kleinen Selbstporträt von Heinrich Böll aus früher Zeit. Gestorben ist er, nicht einmal 70 Jahre alt, von längerer Krankheit zermürbt und von den Zeitläuften enttäuscht, in einer heißen Juliwoche 1985. Danach war eine erstaunliche Welle des Mitgefühls zu spüren, im literarischen wie im richtigen Leben. Sie galt nicht nur dem populären und vielfach ausgezeichneten Schriftsteller, dem Nobelpreisträger für Literatur von 1972, sondern dem Mitbürger, der bei aller Prominenz ein „Dichter der Leute“ geblieben war: der einzig wahre Volksschriftsteller der alten Bundesrepublik.
Ob der Autor Böll danach schneller in Vergessenheit geriet als unvermeidlich? Manchmal konnte man diesen Eindruck haben. Er sei „abgelegt wie ein zerbeulter Mantel“ schrieb eine Zeitung zu seinem 85. Geburtstag im Jahr 2002; und eine andere fragte kurz und knapp: „Beliebt, beschimpft, vergessen?“
Amnesty und Grüne als Ablösung
Der Eindruck mochte entstehen, weil mit ihm eine, ja d i e Symbolfigur des politisch engagierten, sich energisch – und mit persönlichem Risiko – in die Konflikte der Gegenwart einmischenden Schriftstellers verschwunden war. Die jüngere Autorengeneration ging andere literarische Wege, und im politischen Meinungsstreit traten jetzt die Grünen (die ihn zur Leitfigur erklärten), Amnesty International oder Greenpeace an die Stelle der nonkonformistischen Intellektuellen. Dies mindert nicht die enorme Bedeutung, die Böll als Autor wie als öffentliche Figur (wie auch als Helfer in manchen menschlichen Nöten), für die demokratische Selbsterziehung, die politische Kultur der Bundesrepublik zukam. Dass er diese Wirkung in seinen letzten Lebensjahren selbst nicht mehr so ganz zu schätzen wusste und zunehmend verbittert klang, war ein Grund zur Traurigkeit.
Dass seine Werke von Anfang „gebunden“ blieben an „Zeit und Zeitgenossenschaft“, dass er in seinen Romanen und Erzählungen, aber auch in vielen Aufsätzen und tiefschürfenden Gesprächen fast ausschließlich vom Erfahrungsschatz – und der Erfahrungslast – seiner Generation sprach, mag man als Beschränkung sehen. Aber damit hat er zugleich ein weit gespanntes Bild der Nachkriegsepoche „fortgeschrieben“ (wie er gerne sagte), in dem sich verschiedene Generationen erkennen mochten: Die Kriegskameraden und Heimkehrer in den Frontgeschichten, den kurzen Trümmer- und Nachkriegsromanen; die Einzelgänger und Außenseiter der spießig-verlogenen Wirtschaftswunderwelt in seinem ersten Roman von Rang, den „Ansichten eines Clowns“, der 1963 eine enorme Wirkung bis weit ins katholische Establishment hatte. Und für die Generation der Nachkriegskinder, auch die seiner Söhne, schuf er Anfang der siebziger Jahre, auf der Höhe seiner literarischen wie persönlichen Geltung, das „Gruppenbild mit Dame“, sein literarisches Meisterwerk – ein Monument deutscher Erinnerungskultur, lange bevor dieses Schlagwort in Umlauf kam.
In einem seiner letzten Gespräche hat man den Dichter nicht besonders diskret gefragt, welche Art von Nachruhm er sich wünsche: Nun, er bliebe gern als „ein ständig umstrittener Klassiker“ in Erinnerung. Ob das möglich ist? Sicher ist, dass manche seiner Themen und Kontroversen ihre Aktualität oder gar ihren Platz in unserer kollektiven Erinnerung verloren haben; dies dürfte wohl unvermeidlich sein, ein Preis, der für jene „Gebundenheit“ zu zahlen war.
Schon in seinen literarischen Anfängen hat man Bölls Themen und seine Schreibweise gelegentlich als rückständig gescholten. Aber was wäre heute aktueller als seine Antwort aus dem „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ von 1952: „Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und dass die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, dass man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen.“
Und nichts haben wir heute wohl nötiger als jenen irisch-ironischen Segen, den er einst einer Festgesellschaft im Kölner Verlagshaus spendete: „God bless you all – and the Federal Republic of Germany!“