Essen. . Von Versuchung und Versuchen: Die christlichen Kirchen kämpfen gegen ihren Bedeutungsverlust in der Gesellschaft. Mit unterschiedlichen Mitteln.

„Und führe uns nicht in Versuchung“: Theologieprofessoren schütteln verwundert den Kopf, weil Papst Franziskus durch diesen Satz im „Vaterunser“ Gott selbst diskreditiert sieht – während nicht wenige Gläubige feststellen, dass auch für sie das myriadenfach gesprochene Gebet zu einer christlichen Formelsammlung geworden ist, über deren Worte man gar nicht mehr nachdenkt, selbst wenn man sie mit Inbrunst spricht. Das „Vaterunser“ ist doch eine Art Heiligtum für den täglichen Tag, seit der Bergpredigt immer schon da und als biblisch überliefertes Jesus-Wort eigentlich unhinterfragbar.

Es wird keine Versuchung gewesen sein, die Franziskus mit päpstlicher Autorität am jahrhundertealten Text rütteln ließ, sondern Konsequenz und Kalkül. Franziskus ist dabei, die katholische Kirche zu humanisieren, wann und wo immer es geht. Sein Plädoyer für eine „arme“ Kirche soll ja dazu führen, dass Kleriker und Gläubige einander wieder auf Augenhöhe begegnen können. Paradoxerweise aber hat gerade Franziskus’ Plädoyer für eine Neufassung im Sinne von „Und lasse uns nicht in Versuchung geraten“ offenbar werden lassen, wie weit sich die Amtskirche mit vielem, was ihr wichtig und diskutierenswert ist, von den Alltagssorgen der Menschen entfernt hat. Die Kirche wird mehr und mehr zum Festtags-Phänomen für die berühmten U-Boot-Christen, die nur noch zu besonderen Gelegenheiten auftauchen: Weihnachten werden die Kirchen wieder voll sein, nach Mordanschlägen sind sie es ebenso wie bei Hochzeiten und manchem Todesfall.

Bedeutungsverlust für den Alltag vieler Menschen

Franziskus’ Strategie, die Kirche wieder näher an ihre Wurzeln zu führen, den Machtanspruch der Kleriker einzudämmen, Nächstenliebe statt Dogmen zu predigen und Humanität statt theologischer Haarspaltereien, mag im „Vaterunser“-Fall halb nach hinten losgegangen sein. Es bleibt ein Versuch, den Bedeutungsverlust für den Alltag vieler Menschen, den die Kirche in den Wohlstands-Regionen der Welt erlitten hat, aufzuhalten.

Der evangelischen Kirche geht es da nicht besser. Ein halbes Jahrtausend nach dem Thesen-Anschlag auf die Einheitskirche haben die allseits als Luther-Jahr wahrgenommenen Jubiläumsveranstaltungen die Fragen nach ihrer Relevanz verdrängt. Die Amtskirche stritt mit Universitäts-Theologen, ob diese dem Reformationsjubiläum zu wenig Aufmerksamkeit widmen – während die Gelehrten der Kirche vorwarfen, dass bei den Feierlichkeiten viel von Luther und den geschichtlichen Folgen die Rede war, aber wenig von Gott. Und als dann bei einer Fernsehumfrage zum Thema eine Frau ganz nüchtern und sachlich feststellte, die evangelische Kirche sei „doch ein absolutes Auslaufmodell“, schrillten bei Ute Pfeiffer die Alarmglocken. Die Pastorin, lange Zeit „Kiez“-Pfarrerin in Berliner und Potsdamer „Problembezirken“, schrieb unter dem Titel „Mein Gott, Kirche!“ auf, was diese gegen ihre von vielen Seiten empfundene Lebensferne tun könnte.

Seelsorge via Skype als Option

So schlägt sie vor, in Schulen für die Konfirmation zu werben, Jugendliche und vor allem Konfirmanden viel stärker übers Internet in Kirchen einzubinden, Seelsorge via Skype inklusive. Oder kirchliche Paten-Kurse für Nichtchristen, die Täuflingen zur Seite stehen wollen, ohne formales Kirchenmitglied zu sein. Oder eine Wiedereinführung von „Gemeindeschwestern“, wie es sie früher gab.

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Schließlich müsse man, schreibt Pfarrerin Pfeiffer, versuchen, ausgegrenzte Menschen am Rand der Gesellschaft zu integrieren, Arme, Wohnungslose, HIV-Positive, Seelenkranke, Trinker – als ursprünglich ja einmal propagierte „Einheit der Christen“. Ihr ist durch eigene Erfahrungen allerdings schon klar, dass das bei manchen noch verbliebenen Gemeindemitgliedern für das eine oder andere Naserümpfen oder mindestens für Befremden sorgen wird. Da müsse sich jeder Christ selbst befragen: „Will ich wirklich eine inklusive Kirche? Oder wünsche ich mir in Wahrheit meine Ortsgemeinde doch eher exklusiv? Wie würde ich, wenn ich ehrlich bin, auf einen Mann reagieren, der den Abendmahlskelch austrinkt und „Prost!“ sagt?“ Das ist ihr selbst nämlich tatsächlich passiert, als sich ein Obdachloser in ihren Gottesdienst verirrte und so begeistert war, dass er am Abendmahl teilnahm. „Ich komme jetzt öfter“, sagte der Mann noch, ist dann aber wohl doch weitergezogen.

Kirchen sollen „bei de Leut“ sein

Nah „bei de Leut“ zu sein, wie der einstige Rheinland-Pfalz-Ministerpräsident Kurt Beck es nannte, das fordert selbst Heinrich Bedford-Strohm, als Ratsvorsitzender höchster Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ute Pfeiffer erinnert ihn jedoch daran, dass, bei allem berechtigten Engagement für Flüchtlinge, auch jene Menschen dazugehören müssten, die das Gefühl haben, ihnen höre ansonsten nur noch die AfD zu.

Ob die Appelle und Vorschläge der Pastorin aus dem Auslauf- ein Zukunftsmodell machen? Ute Pfeiffer ist klar, dass engagierte Christen gemeinsam mit den Enttäuschten „festgelegte Strukturen aufbrechen“ müssten – und setzt auf das Prinzip Hoffnung. Sie beruft sich auf den Theologen Dietrich Bonhoeffer und dessen Forderung „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“.

Selbstzweck-Charakter der christlichen Kirchen

Genau daran hat der bekennende Atheist Philipp Möller erhebliche Zweifel und sie nicht nur als Pressesprecher einer atheistischen Buskampagne vor zehn Jahren öffentlich breit gestreut, sondern auch als gern gesehener, smarter Talkshow-Gast. Mit seinem Buch „Gottlos glücklich“ versucht er nicht nur, den Selbstzweck-Charakter der christlichen Kirchen zu entlarven, er polemisiert auch gegen ihre massive, milliardenschwere Finanzierung durch den Staat, die ein Vielfaches der zehn Milliarden Euro beträgt, die jährlich an Kirchensteuern einbehalten werden. Leider verlieren sich in Möllers Buch eine Handvoll eingestreuter Fakten (dass etwa die Konfessionslosen mit 36 Prozent die größte Bekenntnisgruppe in Deutschland ausmachen, gefolgt von 29 Prozent Katholiken und 27 Prozent Protestanten) in einer Erzählweise, die irgendwo zwischen Anekdote und „Mein schönstes Ferienerlebnis“ pendeln.