Bochum. . Formales Experiment, Umsetzung mit spürbaren Grenzen: Nielebocks „Orestie“ am Bochumer Schauspielhaus setzt auf Sprache und kommt nicht ans Ziel.

Was nützt Theater in Gedanken? Lisa Nielebocks Experiment, „Die Orestie“ des Aischylos ganz dem Primat der Sprache un­terzuordnen, scheint eine begnadete Idee. Welcher Text taugte dazu, wenn nicht dieser?

Buchstäblich gewaltgeladen ist die Tragödie. Selbst in Peter Steins schlanker, ironiebegabter Übertragung ist sie noch durchwirkt von archaisch finsterer Poesie, Erinnerung stellt der Text als fluchbeladene Konstante des Menschseins heraus. Man muss das nur aussprechen. Vor allem aber müsste man es sprechen können. Sich den vorwiegend quälenden zwei pausenlosen Stunden in Bochums Kammerspielen auszusetzen, hieß in unserem Fall, sich eines Bonmots des großen Caruso zu erinnern. Über Verdis Prachtoper „Troubadour“ sagte der Tenor, der sei ganz leicht zu besetzen: „Man braucht nur die vier besten Sänger der Welt.“

„Die Orestie scheitert auch an Schauspielern, die die Reduktion auf Sprache nicht leisten können

Wie aber das Septett des Schauspiel-Ensembles da sitzt und redet (und noch lange sitzenbleibt und weiterredet), da bricht eine Zeit unfreiwilliger Beklommenheit an. Erzählt wird eingangs von Trojas Un­tergang, vom Triumph, der die Serie von Gewalt nicht ausblenden kann, die die DNA der Atriden (Agamemnon ist ihr amtierender Herr) prägt. Doch Aischylos’ schillerndes Panorama aus Sieg und Vergeblichkeit erhält hier kaum die Farben einer Ansichtskarte. Den meisten Schauspielern gebricht es an der Gabe, allein über Sprache das Wort Fleisch werden zu lassen.

Wer Orestie-Inszenierungen als szenische Schlachtfeste erlitten hat mit Hektolitern von Theaterblut, mag in Nielebocks szenischem Purismus, der im ersten Moment noch eine schöne Beiläufigkeit kultiviert, hoffen. Aber blutleer ist das Ergebnis. Den Opfern des Dramas steht eine tote Inszenierung im Weg – und ein die ganze Bühne auf einen schmalen Grat verengender vertikaler Lattenrost. In seiner Beliebigkeit liefert Oliver Helfs Bühnenbild kaum mehr als Designer-Möbel. Ein Bretter-Riegel, doch hinter tausend Stäben: keine Welt. Helfs Ästhetik dringt so wenig zum Kern vor wie Thomas Osterhoffs cellodudelnder Trauerkitsch.

Solche Äußerlichkeiten wären unbedeutend, hätte das Ensemble den Text substanziell im Griff. Das Gegenteil bildet die Not des Abends. Therese Dörr (Kassandra) pumpt sich mit lauter sinnwidrigen Betonungen und schwer erträglichen Kunst-Manierismen durch die kleine (Traum)-Rolle. Anke Zillichs Klytaimnestra tänzelt erst auf dem Süffisanz-Boulevard, um später umso aufdringlicher ins Opferkostüm zu springen. Marco Massafras Aigisthos geht der Text wie eine Fremdsprache über die Lippen. Überhaupt könnte der Abend durchaus dazu verführen, über Sprache und Sprechen als auf deutschen Bühnen nicht ungefährdete Kulturtechniken zu diskutieren.

Lisa Nielebocks Inszenierung der „Orestie“ bleibt blutarm und ohne tragische Fallhöhe

Immerhin: Während selbst ein großer Künstler wie Werner Wölbern (erst Agamemnon, später Apollon) in Nielebocks antiker Buchstabensuppe kaum mehr als schmetternd seinen Senf dazugeben darf, lauscht man dankbar der präzisen, zig Bilder entfachenden Schlichtheit, mit der ausgerechnet ein Einspringer wie der 74-jährige Heiner Stadelmann als Wächter alle Kollegen überragt.

„Die Orestie“ erzählt, wie erst Katastrophen dem Menschen und der Menschheit eine neue Form der Mündigkeit bescheren. Am Ende weicht mit Hilfe der Götter das allein Rächende. Doch weder die verbrecherische Fallhöhe noch das erschütternd Revolutionäre spiegeln sich in dieser Inszenierung und ihrer ungeschickt gekürzten Fassung wider.

Auf dem Spielplan stand eine antike Tragödie, es blieb beim Bochumer Trauerspiel. Schöner Beifall.