Essen. . Schriftsteller Daniel Kehlmann schreibt in „Tyll“ über eine dunkle Epoche. Ein Gespräch über Folter und Fundamentalisten, Narren und Donald Trump

Schriftsteller Daniel Kehlmann hat die Welt vermessen und wurde darüber zum Bestsellerautor; nun hält der 42-Jährige seine Leser zum Narren: Und schickt mit „Tyll“ einen mittelalterlichen Possenreißer in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Mit Britta Heidemann sprach der Autor über närrische Vorbilder, irrsinnige Hexenprozesse und Donald Trump.

Herr Kehlmann, Sie verpflanzen Ihren Tyll ins 17. Jahrhundert. Warum schien Ihnen das passend?

Weil man mit dem Narren immer schon alles machen konnte. Shakespeare hat ein und denselben Narren in unterschiedlichen Stücken, also in unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten eingesetzt, und Charles de Coster hat sogar einst Ulenspiegel in den spanisch-niederländischen Krieg verpflanzt. Der Narr ist eine flexible Figur, er steht außerhalb der normalen Zeitläufte!

Herman Botes „Eulenspiegel“ ist nicht gerade ein Lesegenuss, was konnten Sie aus dem Werk überhaupt für sich herausziehen? Oder gab es andere Narrenfiguren, die vielleicht eher Vorbild waren?

Vor allem konnte ich Bilder herausziehen: Der Mann auf dem Seil, der Mann im Bienenkorb, der Mann hinter dem Spiegel und so weiter. In meinem Buch kehren, mehr oder weniger versteckt, diese berühmten Eulenspiegel-Bilder wieder, während ich die alten Anekdoten eigentlich kaum verwende. Das größte Narren-Vorbild war aber Shakespeares Narr Feste.

Feste ist der Spötter und Ränkeschmied aus „Was ihr wollt“, Shakespeares großem Spiel mit Geschlechteridentitäten. Könnte der Narr eigentlich – weiblich sein?

Shakespeare spielt wunderbar mit unsicheren Geschlechteridentitäten, sein Narr ist aber normalerweise männlich. Ich glaube aber nicht, dass darin eine feste Regel liegt - ein Schmied oder ein Tischler könnten in der frühen Neuzeit nicht weiblich sein, der Narr könnte es sehr wohl. Auch in meinem Roman tut ja Nele alles, was Tyll tut - außer das Seiltanzen -, und ist ihm eine gleichwertige Gefährtin. Die Geschlechterrollen in dieser Zeit sind starr, aber gerade die Komödianten weichen sie auf eine Weise auf, die sogar aus unserer Sicht noch verblüffend und radikal wirkt.

Eine Frage zum Handwerklichen: Ihre Sprache, gerade in den Dialogen, ist an sich gar nicht altertümelnd, wirkt aber auch nicht modern. Was ist der Trick?

Alle Konzepte zu vermeiden, die die Figuren damals nicht gehabt hätten können. Das Wort depressiv etwa könnte nicht vorkommen, man müsste traurig oder schwermütig sagen. Worte wie Energie oder blitzschnell könnten nicht vorkommen, man hatte diese Konzepte nicht. Ich musste die Sprache gewissermaßen durch mehrere Filter schicken, das war ein langwieriger Prozess.

Tylls Vater ist ein Müller, der sich für Kräuterkunde und Wissenschaft interessiert – ihm wird der Hexenprozess gemacht. Warum war es wichtig, diese Grausamkeit nicht zu verschweigen?

Wenn man von einer grausamen Zeit erzählt, und besonders vom Verbrechen der Hexenjagd, dann kann man den Umstand, dass das alles mit Folter zu tun hatte, nicht verschweigen. Gleichzeitig darf und will ich mich als Autor nicht in Folterphantasien verlieren, deshalb war es so wichtig, nur mit Andeutungen zu arbeiten. Aber diese wiederum mussten sein - die Folter war unabtrennbarer Bestandteil jedes Gerichtsprozesses, würde man darüber hinweggehen, wäre das Ergebnis geschönt und unwahr.

Die verdrehte Argumentation der Inquisitoren und Folterer, die sich selbst ja eher als Opfer denn als Täter sahen - findet sie womöglich einen Spiegel in jenem Denken, dass wir bei radikalen Islamisten vermuten dürfen? Sehen Sie da eine Parallele?

Ich habe es nicht auf diese Parallele angelegt, aber sie ist durchaus da. Ich glaube, das lässt sich auf alle religiösen Fanatiker verallgemeinern: Der Fanatiker hat immer das Gefühl, es mit dem Teufel höchstpersönlich zu tun zu haben, der zwar letztlich Gott unterliegen wird, aber einstweilen doch die stärkste Kraft in der sündigen, gefallenen Welt ist. Deswegen kann der Fanatiker sich immer als Opfer fühlen - auch wenn er in einer unangreifbaren Machtposition ist. Ich glaube, das ist ein universales Paradox des Fundamentalismus.

Wenn Sie selbst eine historische Lehre ziehen sollten aus dem, was Sie für den Roman gelesen, recherchiert haben, wie würde diese lauten?

Sie würde lauten: Habe nie zu viel Vertrauen in den Status Quo. Alles kann schnell zusammenbrechen. Stabilität ist immer trügerisch.

Sie leben seit längerer Zeit in den USA. Wie sehr berührt der Trump’sche Irrsinn Ihren Alltag, Ihr Schreiben?

Man empfindet es als einen Schatten, der auf allem liegt. Plötzlich steigt man in Europa aus dem Flugzeug und atmet freier - vorher war es umgekehrt. In einem Land zu leben, das von einem bösartigen verwirrten Menschen regiert wird, ist nicht gut fürs Gemüt und für die Gesundheit, selbst wenn einen der Wahnsinn persönlich noch nicht berührt. Es ist also immer da.

In der erzählten Zeit des Romans drang die Wissenschaft immer weiter vor und verdrängte allmählich Glaube und Aberglaube – glauben Sie, dass wir in unserer postfaktischen Zeit womöglich gerade den Salto rückwärts machen?

Ja, eigentlich glaube ich das schon. Wenn Trump nicht einen Dritten Weltkrieg beginnt - was im Augenblick durchaus möglich scheint -, dann wird diese Zeit einmal als kurzer Rückschlag und triste Epoche der Stagnation gelten. Der Fortschritt ist am Ende doch so leicht nicht aufzuhalten. Das hat Obama in seinen letzten großen Reden gesagt, und im Augenblick bin ich noch geneigt, seinen Optimismus zu teilen.

Wenn Sie sich die Gegenwart so anschauen, vergeht Ihnen da das Lachen? Würde es einem Narren vergehen?

Nein, Tyll wird das Lachen nie vergehen, er ist unbeugsam. Solange er lebt, erschüttert ihn nichts. Und er hat gute Chancen, für immer zu leben.

Daniel Kehlmanns neuer Roman „Tyll“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, hat 480 Seiten und kostet 22,95 Euro. Die ungekürzte Hörbuch-Fassung liest Ulrich Noethen (Argon Verlag, 20,95 €)