Essen. Die „Ich auch“-Welle beendet zwar nicht den Machtmissbrauch. Aber sie drückt Unbehagen aus und mündet vielleicht in ein neues Gesellschaftsklima.

Der Fall Harvey Weinstein hat den Sündenpfuhl Hollywood entlarvt und die nur so halb überraschenden Verflechtungen von Sex und Machtmissbrauch; die Erschütterungen aber reichen bis weit in die Vergangenheit (etwa bis in jene Nacht, an die Kevin Spacey sich nicht erinnern können will) sowie bis ins ferne Europa: In Schweden, in Italien, in Frankreich gehen wütende Frauen auf die Straße. In Großbritannien legten der Verteidigungsminister und jüngst ein schottischer Staatssekretär ihre Ämter nieder, gegen mehrere konservative Politiker gibt es Vorwürfe in Listenform – weitere Rücktritte werden erwartet. Auch aus dem EU-Parlament wurden Vorwürfe öffentlich, kursieren Namenslisten mutmaßlich übergriffiger Männer.

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In Deutschland schreibt eine Berliner SPD-Politikerin über die sexistische Äußerung eines evangelischen Bischofs, berichten Schauspielerinnen von entwürdigenden Momenten. Und unter dem Twitter-Schlagwort #metoo erheben die nicht-prominenten Frauen ihre Stimme. „Ich auch“, das bedeutet: Auch ich bin belästigt worden, verbal oder körperlich. In der Kneipe, im Büro, in der U-Bahn, im Schwimmbad.

Das Ende der Grenzüberschreitungen

Erleben wir gerade das Ende der mächtigen, alten, weißen Männer? Das Ende der Schweigekartelle, der tagtäglichen Grenzüberschreitungen? Eine Revolution der Geschlechter also? Oder erleben wir schlicht – eine Massenhysterie? In der jeder Po-Grabscher den virtuellen Status einer Vergewaltigung erhält?

Beginnen wir den Versuch einer Entwirrung mit den Harvey Weinsteins dieser Welt. Denn: Ja, es gibt mächtige Männer, die ihre Macht ausnutzen. Und es gibt Frauen, die zu schweigenden Opfern werden und jene, die wegschauen. (Tatsächlich gibt es auch Männer, die Opfer sind, und Frauen als Täterinnen – nur befinden sich deutlich weniger Frauen in extremen Machtpositionen.)

Ist das wirklich so überraschend?

Dass handfest strafbare Vorfälle oft erst Jahrzehnte später bekannt werden, dass sich erst nach einem einzelnen Opferbekenntnis weitere Frauen zu Wort melden (wie etwa in den Fällen von Dominique Strauss-Kahn oder Bill Cosby) – ist das wirklich so überraschend? Sich als Einzelne gegen ein System zu stellen heißt auch, aus diesem System herauszutreten. Das erfordert Kraft, Mut, Entschlossenheit. Es ist gut, dass in Demokratien das Fehlverhalten gerade von Männern in Vorbildfunktion (also Politikern) geahndet wird, Stichwort: Abschreckungseffekt. Wenn nun gerade in Amerika die Empörung noch über jahrzehntealte Fälle mittlerer Schwere hochkocht, wie jüngst im Fall Kevin Spacey, dürfen wir die Vehemenz allerdings als regionale Besonderheit erachten: Wir reden hier über ein Land, in dem Fast-Food-Ketten aufgrund überraschend wohltemperierten Kaffees verklagt werden können.

Doch selbst im moderater gesinnten Europa scheinen die Fronten verhärtet. Hier die wütenden Frauen – dort die entsetzten Männer, die fragen: Ist das alles wirklich so? Was dürfen wir noch sagen, tun? Ein Kollege empört sich: Was jungen Afrikanerinnen während der Flucht passiert, das ist wirklich schlimm – was ist dagegen ein sexistischer Spruch? Ein vollkommen hirnrissiges Argument natürlich: Wollen wir ernsthaft eine todgefährliche Mittelmeerfahrt im rechtsfreien Raum eines Schlauchboots vergleichen mit einem morgendlichen Gang zur Kaffeeküche?

Zusammenfassen, was nicht zusammengehört

Tatsächlich aber zeigen Sätze wie diese, wie gefährlich die grassierende Vermengung ganz unterschiedlicher Situationen ist. Das beginnt damit, dass die Frauen selbst unter #metoo zusammenfassen, was nicht zusammengehört: Als unangenehm empfundene verbale Belästigungen und strafrechtlich relevante Fälle, zu denen seit letztem Sommer, im Nachgang der Kölner Silvesternacht und begleitet von der „Nein heißt nein“-Debatte, übrigens auch der Tatbestand des Grabschens zählt.

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Erschwerend kommt hinzu, dass in den Grauzonen dessen, was noch Flirtversuch und schon Belästigung ist, Verallgemeinerungen schwierig sind. Was in der Kneipe geht, kann im Meeting extrem schräg wirken. Was die eine Frau mit einem ironischen Lachen quittiert, empfindet die andere als zutiefst beschämend.

#metoo ist weniger ein #aufschrei

Hier liegt womöglich auch die Erklärung dafür, warum so viele Frauen das Internet als Plattform für ihr „Ich auch“-Bekenntnis wählen – anstatt sich in der Situation zu wehren oder den Mann zur Rede zu stellen. #metoo ist weniger ein #aufschrei – wie jener nach der Dirndl-Bemerkung des FDP-Politikers Brüderle –, sondern eher eine Solidaritätsbekundung, die heißt: Auch ich konnte in dem Moment, in dem ich mich belästigt, bedrängt, beschmutzt fühlte, meine Beklemmung nicht in Worte fassen.

Die quasi-anonyme, jedenfalls distanzierte Offenbarung dient zudem als Selbstschutz. Denn bis heute schwingt noch in jeder Debatte über Übergriffe ein Hauch von „selbst schuld“ mit. Was hat sie auch einen so kurzen Rock getragen, so roten Lippenstift! Was geht sie auch abends allein durch die Straßen!

Den Frauen den Rücken stärken

Nein, auch #metoo ist nicht das Ende allen Machtmissbrauchs – aber im Kern auch keine hysterische Lachnummer. Es ist gut, wenn hier weibliches Unbehagen öffentlich wird und womöglich eine leichte Klimaveränderung in der Gesellschaft provoziert. Wenn die Grenzen zwischen dem, was geht und was nicht geht, etwas enger gezogen werden. Nicht, um dem Spiel zwischen den Geschlechtern die Leichtigkeit zu nehmen. Aber um jenen Frauen den Rücken zu stärken, die zum Opfer werden – und sich Respekt erkämpfen müssen.