Essen. . Menschen in aller Welt kennen die kleinen Quader gegen das Vergessen. Diese „Stolpersteine“ sind Gunter Demnigs Lebenswerk. Jetzt wird er 70.

An seinem heutigen 70. Geburtstag hat sich Gunter Demnig ausnahmsweise mal eine vollkommen weiße Seite in seinem Terminkalender reserviert. Ansonsten aber sind die Seiten von oben bis unten voll. Der Konzeptkünstler Demnig verlegt ja nicht nur eigenhändig seine berühmten Stolpersteine, von denen er mittlerweile etwa 63 000 Stück in ganz Europa verlegt hat – bevor er mit Sand und Pflasterer-Hammer zur Tat schreitet, gilt es zu recherchieren, Offizielle zu bitten und die Presse zu informieren

Seit Mitte der 90er-Jahre arbeitet der in Frechen bei Köln ansässige Demnig daran, die Erinnerung an die Wohnorte von Opfern des Nationalsozialismus wachzuhalten: Vor jedem ihrer Wohnhäuser verlegt Demnig einen seiner Steine. In einem Monat können es manchmal fast 500 sein. Die „Steine“ sind kleine Würfel aus Beton, auf denen oben eine Messingtafel eingelassen ist, zehn mal zehn Quadratzentimeter groß.

„Die Grundidee, die dahintersteckt, ist die, dass wir überall da aktiv werden, wo die SS ihr Unwesen getrieben hat“, erläutert der gebürtige Berliner, der heute in Frechen bei Köln lebt. Deshalb liegen die Steine nicht nur in Deutschland, sondern in insgesamt 21 Ländern. Im Jahr legt Demnig etwa 60.000 Kilometer mit dem Auto zurück.

Gunter Demnig hat für seine „Stolpersteine“ schon 21 Länder der Welt besucht

Die Menschen, deren Namen die Steine tragen, waren Juden, Sinti und Roma, politische Gegner des Regimes oder hatten Behinderungen. „Am häufigsten werden wir von Heimat- und Geschichtsvereinen kontaktiert, aber auch von Angehörigen oder Schülergruppen, die wollen, dass wir bei ihnen auch einen Stein verlegen.“ Das geschieht immer auf dem Gehweg vor dem Gebäude, in dem die Verfolgten zuletzt gelebt hatten.

120 Euro kostet ein Stein. „Darin ist alles enthalten, der Stein, unsere Anreise und die Verlegung“, sagt Demnig. Neun Leute gehören mittlerweile zu seinem Team. Eigentlich habe er ursprünglich Plaketten an den Hauswänden anbringen wollen, erzählt er. Aber ihm sei klar, dass das vielen Hauseigentümern nicht recht gewesen wäre.

„Mit der Verlegung bricht der Künstler geradezu anarchisch, man könnte nach über 20 Jahren sagen: noch immer, in die Gemütlichkeit und Ordnung eines Wohnviertels oder einer Geschäftsstraße ein“, schreibt der Historiker Hans Hesse in seinem gerade erschienenen Buch über das Stolperstein-Projekt (siehe Kasten oben).

„Stolpersteine“ sind im Stadtbild Zeichen der Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus

Den Namen „Stolpersteine“ hat Demnig nicht selbst erfunden. „In einem Interview hat ein Kölner Hauptschüler einmal auf die Frage eines Journalisten, ob man da nicht drüber stolpert, gesagt: ,Nee, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.’“ Das habe ihn sehr beeindruckt, sagt der Künstler – also hießen sie fortan so. Er nennt sie „das größte dezentrale Mahnmal der Welt“.

Aber es gibt auch Kritiker. Die prominenteste ist Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, gibt zu bedenken, dass damit das Andenken der Menschen sprichwörtlich mit Füßen getreten werde. In München dürfen keine „Stolpersteine“ auf öffentlichen Wegen verlegt werden.

Die Kölner Jüdin Julia W. hingegen findet die Steine gelungen: „Ich bin sehr froh, dass es sie gibt. Und ich trete nie auf einen, ganz bewusst nicht.“

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Es ist ein prächtiger, großformatiger Band geworden, der zum 70. Geburtstag des „Stolperstein“-Künstlers Gunter Demnig sein Lebenswerk würdigt. Der Band ist bis zum 31. Oktober noch zum Subskriptionspreis von 34,95 Euro erhältlich (etwa in unseren Leserläden): Hans Hesse: Stolpersteine. Idee, Künstler, Geschichte, Wirkung. Klartext-Verlag, 511 Seiten, zahlr. Abbildungen, 39,95 Euro.