Washington. . Der Skandal um Harvey Weinstein ist für Hollywood eigentlich nicht sehr neu. Die Traumfabrik als Ort sexueller Ausbeutung ist eine alte Adresse.
Für die evangelikale Rechte in den USA ist Harvey Weinsteins Absturz in Hollywood wie ein Elfmeter ohne Torwart. Endlich kann sie mit puritanisch verklebten Fingern auf das verlogene Lalaland zeigen. Auf einen glitzernden Kunstbetrieb, der sich liberal-fortschrittlich gibt, Donald Trump ablehnt und auf Wohltätigkeits-Galas Geld sammelt aus Protest gegen Beschneidungs-Gewalt, wie sie Frauen angetan wird. Der aber trotz Feminismus, „Summer of Love“ und Frauen-Power auch im 21. Jahrhundert nicht in der Lage ist, das weibliche Personal vor jenen toxischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zu schützen, die sexuell unersättliche Raubtiere wie der jetzt in Ungnade gefallene Film-Produzent am Leben erhalten haben.
Was in der anhaltenden Flut von Ich-bin-auch-eines-seiner-Opfer-Geständnissen (aktueller Stand: über 40...) untergeht, die den 65-Jährigen weit über Hollywood hinaus zur Persona non grata gemacht haben und eventuell sogar in eine Gefängnisstrafe (wegen Vergewaltigung) münden könnten, ist die Frage nach dem Warum und Wieso.
Viele schlimme Vorbilder in Hollywoods Geschichte
Eine Frage, die sich gerade nach dem spektakulären Geständnis von Quentin Tarantino aufdrängt. Der Regisseur, dem Weinstein wie in einer künstlerischen Vater-Sohn-Beziehung seit 25 Jahren Filme wie „Reservoir Dogs“, „Pulp Fiction“, „Kill Bill”, „Inglourious Basterds” und „The Hateful Eight” ermöglichte, hat sich gestern nach tagelangem Schweigen als langjähriger Mitwisser zu erkennen gegeben und kiloweise Asche aufs Haupt gestreut. „Ich wusste genug, um mehr zu unternehmen, als ich tat.“
Tarantino will die sexuelle Übergriffigkeit des bulligen Impresarios lange für sich selbst als „mildes Fehlverhalten marginalisiert“ und als das „50er-, 60er-Jahre-Image“ eines Chefs verbucht haben, „der die Sekretärin um den Schreibtisch jagt“. Heute, so sagte Tarantino kleinlaut der New York Times, fühle er sich schuldig. Er forderte seine männlichen Kollegen auf, sich ebenfalls zu erklären. „Bekennt, dass etwas faul war im Staate Dänemark. Und gelobt, euch bei unseren Schwestern zu bessern.“
Traumfabrik als Ort von Ausbeutung und Erpressung
Von einer wandelnden Film-Enzyklopädie wie Tarantino hätte man zumindest erwarten können, die Causa Weinstein einzuordnen in das Umfeld aus Scheinheiligkeit, Intrigen und Missbrauch, das die Networks der „dirty old men“ in Hollywood schon vor fast 100 Jahren etablierten.
Rolle vor der Kamera gegen Sex dahinter? Das von Macht und Ohnmacht getriebene „Prinzip Besetzungscouch“ haben Forscher bis in die Stummfilmjahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen können. Eine Zeit, die im Rückspiegel betrachtet den Nährboden schuf, auf dem Generationen später „Monster“ wie Harvey Weinstein gedeihen konnten.
Wer im frauenfeindlichen Dreck von Hollywood wühlt, stößt unweigerlich auf Kenneth Anger. In zwei Büchern („Hollywood Babylon I und II“) hat der in Tinseltown groß gewordene Exot Skandale, Perversionen und Ausschweifungen dokumentiert, die den Leser noch heute erschaudern lassen. Wer das in den 60er-Jahren publizierte Sittengemälde, in dem manches strittig bis unwahr ist, länger betrachtet, erkennt, dass in der Traumfabrik schon immer mächtige Männer über Leichen gegangen sind. Meist waren es weibliche.
Charlie Chaplin, Alfred Hitchcock und Harry Cohn
Zum Beispiel Roscoe Arbuckle, der wegen seines pummeligen Äußeren „Fatty“ gerufen wurde. Der Komödiant war in den goldenen 20er-Jahren einer der ersten Superstars. Bis auf einer seiner berüchtigten Partys das Starlet Virginia Rappe mit einer Champagnerflasche vergewaltigt wurde und wenige Tage später starb.
Zum Beispiel Harry Cohn, den man wegen seines Mussolini-Ticks auch den „Duce“ von Columbia Pictures nannte. Über den tyrannisch-säuisch veranlagten Studio-Boss (Motto: „Ich habe keine Magengeschwüre, ich verpasse anderen welche“) ist verbürgt, dass er jede weibliche Neueinstellung auf der Büro-Couch zum Beischlaf genötigt haben soll. Jede.
Zum Beispiel Charlie Chaplin, den seine sattsam bekannte Vorliebe für Kindfrauen fast ins Gefängnis gebracht hätte. Er musste 1924 seine damals sechzehn Jahre alte und hochschwangere Geliebte Lillita heimlich in Mexiko heiraten, um dem Richter zu entgehen.
Zum Beispiel Alfred Hitchcock, der Tippi Hedren, seine blonde Hauptdarstellerin aus „Die Vögel“ und „Marnie“, gegen ihren Willen so oft belästigte („Es war sexuell, es war pervers, es war hässlich“, schreibt die 87-Jährige in ihren Memoiren), bis die künstlerische Beziehung völlig zerbrach. Der Meister der Spannung, dick und voller Komplexe, ließ das frühere Model fallen wie eine heiße Kartoffel.
Von der Heirat zur Hauptrolle
Zum Beispiel David O. Selznick, Erschaffer des Jahrhundert-Epos „Vom Winde verweht“. Der Spross eines ukrainischen Juwelenhändlers erwarb sich den Ruf eines unausstehlichen Megalomanen, der Schauspielerinnen mit seiner sexuell grundierten Selbstherrlichkeit quälte. Einst griff er sich ein junges Ding aus Oklahoma, nahm sie unter Vertrag, gab ihr einen neuen Namen (Jennifer Jones), heiratete sie und verschaffte ihr eine Hauptrolle.
Zu den dunkelsten Kapiteln Hollywoods, deren mentale Ausläufer bis in die Weinstein-Zeit von heute zu spüren sind, gehört das Thema Empfängnisverhütung. In ihrer lesenswerten Studie „Hollywood’s zweites Geschlecht – die Behandlung von Frauen in der Filmindustrie, 1900 bis 1999“ beschreibt die Autorin Audrey Malone, wie bis weit in die 50er-Jahre hinein die gottähnlichen herrschenden Studiobesitzer von MGM, Paramount oder Warner Bros. für Stars, die schwanger wurden, Abtreibungen arrangierten. Die Philosophie dahinter: „Sexbomben mit Kindern sind keine Sexbomben mehr.“
Angeordnete Schwangerschaftsabbrüche
Viele große Schauspielerinnen dieser Zeit von Jean Harlow über Judy Garland bis Bette Davis fügten sich den von Männern angeordneten Schwangerschaftsabbrüchen, denen bei Verweigerung oft das Karriereende folgte. Auch darum brachte Marylin Monroe die Prozedur im Lauf der Jahre zwölf Mal hinter sich.
Nicht so Lupe Velez. Die Mexikanerin, mit der Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“) eine Affäre hatte, nahm sich 1944 hochschwanger das Leben. Die gläubige Katholikin wollte nicht Hollywoods bekanntesten Abtreibungsarzt aufsuchen. Sein Name laut Kenneth Anger: Doctor Killkare.
In diesen Jahren kultivierte Hollywood das kollektive Wegsehen und opferte tägliche Verstöße gegen Anstand und Frauenrechte auf dem Alter von Glamour und Ruhm. In diesen Jahren wurden Mechanismen zementiert, derer sich auch Harvey Weinstein wie selbstverständlich bediente. Schweigegeld für Betroffene. Einschüchterung von Journalisten mit Top-Anwälten. Schmierkampagnen gegen Kritiker. Ein Mogul alt-hässlicher Schule. Vielleicht macht Tarantino irgendwann einen Film daraus. Dann aber hoffentlich ohne Weinstein.