Frankfurt/Main. Schriftsteller Robert Menasse („Die Hauptstadt“) spricht im Interview über chemiefreie Zigaretten, die EU und seinen Glauben an die Vernunft.

Der Mann, der Deutschlands ersten Europaroman schrieb und für „Die Hauptstadt“ soeben den Deutschen Buchpreis erhielt, dieser Literatureuropäer also raucht Zigaretten der Marke „American Spirit“. Was will uns Robert Menasse damit sagen? Gar nichts. „Das ist einfach eine Biozigarette, ohne Chemie und Additive.“ Mit Britta Heidemann sprach er im chemiefreien Rauch über die europäische Idee, die Tücken des Systems und seinen unerschütterlichen Glauben an die Vernunft.

Herr Menasse, Sie haben lange Zeit in Brasilien gelebt. Hat das eine Rolle gespielt für Ihren Blick auf Europa?

Ja. Ich bin als Österreicher nach Brasilien gegangen und acht Jahre später als Europäer zurückgekommen. Sie müssen wissen: Ich war in Brasilien integriert. Ich hatte einen brasilianischen Freundeskreis, eine brasilianische Frau, ich hatte einen Job als Dozent an der Universität und habe die Sprache beherrscht. Kurz: Ich war Brasilianer des Herzens, was ich im Grunde auch immer noch bin. Dann aber habe ich gemerkt, wenn da einer aus Europa kam, gab es eine Gemeinsamkeit, die stärker war als alles andere. Anfangs habe ich auf die Frage nach meiner Herkunft immer gesagt: Ich bin aus Österreich. Dann musste ich den Brasilianern erklären, wo das genau liegt, und die Reaktion war immer – ah, du bist aus Europa! Irgendwann habe ich das dann selbst so gesagt.

Im Jahr 2010 sind Sie dann ins Herz Europas gezogen: nach Brüssel.

Ja, ich hatte dort bis 2015 eine Wohnung und bin zwischen Wien und Brüssel gependelt. Ich hatte keine Ahnung, wie das System funktioniert, aber habe irgendwann begriffen: Es regiert in mein Leben hinein. Irgendwann wollte ich gewissermaßen in den Maschinenraum gehen und mir das selbst ansehen. Das Konkrete an der EU, an diesem großen Abstraktum, ist: Es ist menschengemacht.

Das ist zugleich das Problem, oder?

Die Widersprüche, die Blockaden haben zwei Gründe. Das eine sind die sehr menschlichen Faktoren: Eitelkeit, Eifersüchteleien, Ehrgeiz. Das andere ist der Grundwiderspruch, dass die Europäische Union ein Projekt zur Überwindung des Nationalismus ist – und dass gleichzeitig die Union aus Nationalstaaten besteht. Demokratische Legitimation haben nur Politiker, die in den Nationalstaaten gewählt sind. Die Beamten der Kommission leiden darunter, dass alles, woran sie monatelang arbeiten, binnen Minuten im Rat zerrissen wird – weil dort die Vertreter der Staaten sitzen. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist so entstanden. Seit Mitte der 90er Jahre hat die Kommission Vorschläge gemacht für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Asylpolitik.

In Ihrer Dankesrede zum Buchpreis haben Sie dennoch betont, wie viel Gutes die EU schon durchgesetzt hat.

Wie sinnvoll Europa ist, sieht man zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit den Konzernen. Denken wir an Amazons Klage gegen die Buchpreisbindung. Wenn man die Preisbindung abschafft und ein Gigant wie Amazon Bücher viel billiger anbieten kann, ist das auf den ersten Blick doch gut für Konsumenten. Ein einzelner Staat hätte sich gegen diese Idee kaum zur Wehr setzen können. Aber die EU hat den Richtern klarmachen können, dass das Buch keine Ware ist wie Waschpulver – und so verhindert, dass tausende Buchhandlungen sterben.

Von außen entsteht momentan der Eindruck, dass Europa zerbröckelt.

Eher zerbröckeln die Nationalstaaten. Die Europäer sitzen in Katalonien und Schottland, die Nationalisten in Madrid und London. Wir erleben einen Frühling der Regionen, der natürlich genauso scheitern wird wie alle Frühlinge, die wir seit dem Prager Frühling erlebt haben.

Ihr Vater ist im Zweiten Weltkrieg von Ihren Großeltern nach London geschickt worden. Wie sehr hat die Geschichte die Familie Menasse geprägt?

Meine Großeltern haben als U-Boote in Wien überlebt, die sind nicht mehr weggekommen. Der Rest der Familie hat sich sehr zerstreut, London, Paris, Brasilien, Kanada. Mein Vater und mein Onkel sind zurückgekommen – mein Onkel als Befreier bei der Britischen Armee. Mein Großvater war Wiener durch und durch, er wäre anderswo zerbrochen. Er sah die Chance, einen demokratischen Staat wiederaufzubauen. Er hat einmal zu mir gesagt, „Ich war gar kein Jude, Hitler hat mich zum Juden gemacht.“ Die Familiengeschichte und die Erfahrungen haben sicherlich dazu beigetragen, dass es in der Familie Menasse eine größere Wachsamkeit gibt, was die politischen Entwicklungen angeht. Wir nehmen vieles leicht, wir lachen gern. Aber es gibt Dinge, die wir nicht so leicht nehmen. Faschistische Parolen als Wahlwerbung – da sind wir empfindlich.

Würde es der großen Idee Europa guttun, wenn sie nicht negativ mit dem „Nie wieder Auschwitz“-Gedanken, sondern positiv besetzt würde? Wenn es eine emotionale Verbundenheit der Menschen zu Europa gäbe?

Mit Emotionen kann man Schlitten fahren, da kann man alles machen. Die Europäische Idee ist ein sachliches, aufgeklärtes Angebot. Ich finde, das muss genug sein. Die emotionale Verbundenheit ist der Anspruch von Nationen, und die scheitern gerade, wie wir sehen. Es ist etwa Italien nie gelungen, die Norditaliener mit den Süditaliener zu versöhnen und zu vereinheitlichen. Die Europäer sollten die Vielfalt ihrer Kultur und ihrer Sprache als ihren Reichtum begreifen.