Frankfurt. . Wieder taucht Daniel Kehlmann in eine Epoche deutscher Geschichte. „Tyll“ führt einen Gaukler in den Dreißigjährigen Krieg.

Zwölf Jahre ist es her, dass Daniel Kehlmann mit dem historischen Roman „Die Vermessung der Welt“ zum deutschen Literaturstar wurde. Und wenn der 42-Jährige, der in New York lebt und dort deutschsprachige Literatur lehrt, nun am ersten Tag der Buchmesse auf der Bühne des Frankfurter Schauspielhauses seinen neuen großen Wurf präsentiert, dann tritt er gewissermaßen in seine eigenen Fußstapfen – denn „Tyll“ erhellt einmal mehr eine Epoche deutscher Geschichte.

Wenngleich eine sehr dunkle: die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die von religiösem Fundamentalismus geprägt war, von Gewalt, die zerrissen war zwischen dumpfen Traditionen des Aberglaubens und frühen Hoffnungsstreifen aufklärerischer Vernunft.

Daniel Kehlmanns neuer Roman „Tyll“ führt in die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges

Aber wie ist Daniel Kehlmann da nur der Tyll hineingeraten, der Ulenspiegel, den wir bislang einige Hundert Jahre früher datierten? Für den Reigen, der ihm vorschwebte, brauchte er ein Bindeglied, verriet ein noch immer jungenhaft wirkender Kehlmann – und zu den wenigen Menschen, die in der frühen Neuzeit jenseits des eigenen Dorfes, ihres gesellschaftlichen Standes agierten, gehört der Narr. Tyll also springt durch die Episoden, und gemeinsam mit jenen, die ihm begegnen, scheint auch der Autor zu staunen, „dass solche Kraft, solche Behändigkeit der Seele aus einem Menschengesicht sprechen konnten“.

Tatsächlich bekennt Kehlmann freimütig: „Ich verstehe Tyll als Charakter selbst nicht, aber er soll ja auch ein Rätsel sein.“

Umso näher kommt er jenen, die den Krieg letztlich anzettelten: dem Heidelberger Kurfürst Friedrich, der König werden will, und seine englische Ehefrau – Winterkönig und Winterkönigin, Könige ohne Land, deren Griff nach der Krone Europa heillose, blutige Verwüstung beschert. Tyll begleitet sie als Narr zum Schwedenkönig Gustav Adolf, wo sie um ihre Kurfürstenwürde betteln – und hier, im Mainzer Winterlagerzelt, stehen wir Leser mitten im Geschehen.

In Kehlmanns Roman aus der Vergangenheit steckt auch eine wache Gegenwartsdiagnose

So lebendig, so echt scheinen Kehlmanns Dialoge (die er bewusst nicht historisiert hat, verrät er, sondern modernes Deutsch mit der Gedankenwelt der frühen Neuzeit paart). So prallvoll ist jeder Satz, jede Szene.

Eine Illusion, eine Selbstüberschätzung bringt eine ganze Welt ins Wanken – natürlich ist Kehlmanns Werk auch eine Gegenwartsdiagnose, wenngleich die Parallelen nicht immer auf deutschem Boden zu finden sind. „Wir waren Syrien“, sagt Kehlmann.

Das Grauen wird in Daniel Kehlmanns „Tyll“ aus der Perspektive der Täter beschrieben.

Und wenn dieser Schriftsteller das Grauen dieser Zeit beschreibt, die drastischen Strafen einer noch jungen Rechtsprechung (die sich mit aller Gewalt gegen die Selbstjustiz stemmte), die Hexenprozesse und Foltermethoden, dann wählt er sehr bewusst die Täterperspektive: „Die Täter bildeten sich ein, sie seien die Schwächeren, weil sie ja mit dem Teufel kämpften – sie fühlten sich als Opfer.“

Indem wir in die Gedankenwelt eines Folterknechts eintauchen, lesen wir womöglich zugleich von den jugendlichen Terrorattentätern un­serer Zeit: Daniel Kehlmanns „Tyll“ ist ein historisches Werk und zugleich eine Parabel, die dem Heute den Narrenspiegel vorhält.

Daniel Kehlmann: Tyll. Erschienen bei Rowohlt, 480 Seiten, 22,99 €