Dortmund. . Kurz vor Brexit erhält also ein Engländer den Literaturnobelpreis, ein Autor, dessen bekanntester Roman von einem britischen Butler erzählt („Was vom Tage übrig blieb“), dessen Werke in Internaten und unter Musikliebhabern spielen. So könnte man es sehen. Oder auch so: Nicht Haruki Murakami, sondern ein anderer Japaner hat den Preis erhalten, einer, dessen Werk sich noch entschiedener der realistischen Gegenwart entzieht, der Gefühlswelten phantastisch spiegelt.

Kurz vor Brexit erhält also ein Engländer den Literaturnobelpreis, ein Autor, dessen bekanntester Roman von einem britischen Butler erzählt („Was vom Tage übrig blieb“), dessen Werke in Internaten und unter Musikliebhabern spielen. So könnte man es sehen. Oder auch so: Nicht Haruki Murakami, sondern ein anderer Japaner hat den Preis erhalten, einer, dessen Werk sich noch entschiedener der realistischen Gegenwart entzieht, der Gefühlswelten phantastisch spiegelt.

Kurz: Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren und seit dem sechsten Lebensjahr in England beheimatet, ist einer der am wenigsten greifbaren, einer der schillerndsten Schriftsteller der Gegenwart. Das Uneindeutige ist Programm, am eindeutigsten vielleicht im monumentalen Werk „Die Ungetrösteten“: Ein Pianist gelangt in eine namenlose Stadt, ein Auftritt steht an, doch wie in einem kafkaesken Traum verschiebt und verzögert sich alles, führen Türen nicht in den Nebenraum, sondern in Parallelwelten – auf über 700 Seiten lässt Ishiguro seine Leser spüren, wie es ist, wenn man sich selbst nicht kennt, sich der eigenen Wurzeln nicht sicher ist, wenn fremde Hotelsuites plötzlich Erinnerungen an das eigene Kinderzimmer wecken.

Handeln die frühen Romane „Damals in Nagasaki“ und „Der Maler der fließenden Welt“ von japanischen Kriegserlebnissen im Zweiten Weltkrieg, so erzählen auch sie bereits auf einer zweiten Ebene von Entfremdung und Entwurzelung. Japan ist nur eine Idee, so wie jedes Land, jedes Leben nur eine Idee ist – und immer auch etwas anderes beinhaltet. Der ur-britische Butler, den Anthony Hopkins dann in „Was vom Tage übrig blieb“ (an der Seite von Emma Thompson) mit gefrorener Mimik gab, kann man zugleich als einen zutiefst japanischen Charakter begreifen: selbst angesichts des sterbenden Vaters noch der stoischen Diensterfüllung verpflichtet – statt dem eigenen Gefühl.

Ishiguros (bisheriges) Meisterwerk jedoch erzählt uns von Wesen, denen wir spontan Identität und Gefühl absprechen würden. „Alles, was wir geben mussten“ beginnt als Internatsgeschichte und unglückliche Lovestory, deren eigentliche Tragik sich erst allmählich offenbart: Wir lesen hier von menschlichen Klonen. Wie sich die Schülerinnen und Schüler an die Hoffnung klammern, die Zurschaustellung ihrer Kreativität (etwa in gemalten Bildern) könnte ihnen das Schicksal ersparen, als menschliches Ersatzteillager der „Vollendung“ dank umfänglicher Organentnahme entgegenzusehen – das zerreißt Lesern auf eine Weise das Herz, die in der zeitgenössischen Literatur nahezu beispiellos ist. Im Jahr 2010 verfilmte Mark Romanek den Roman, in einer der Hauptrollen ist Keira Kneightley zu sehen.

Was die Romane und auch die Erzählungen Ishiguros eint, ist eine Sprache, die wie glattpoliert scheint: zurückhaltend glänzend, präzise, aber niemals auftrumpfend. Ishiguros Sätze tragen seine Leser, gewissermaßen die Sicherheit des vertrauten Terrains vorgaukelnd, in fremde und irritierende Wirklichkeiten. Zugleich verlassen die Protagonisten selbst jene Wirklichkeit und Wahrheit, die bislang verlässlich schien, auch dies ein Muster. „Um sich zu schützen, ist ein gewisses Maß an Selbsttäuschung nützlich“, sagte Ishiguro einmal in einem Interview – „selbst, wer sich ein Scheitern eingesteht, wird versuchen, diesem Scheitern einen gewissen Spin zu geben“.

Und so bewegen sich Ishiguros Erzähler auf ihren Erinnerungspfaden häufig in den Grauzonen dessen, was erlebt, erwünscht oder schlicht erfunden ist – oft sind sie so wenig zuverlässig wie unsere eigenen Selbsterzählungen. In Ishiguros jüngstem Roman, dem ans Fantasy-Genre angelehnte „Der begrabene Riese“, stellt er schließlich seinen Lesern ganz direkt die Frage: Ist es besser, sich an die Schrecken die Vergangenheit zu erinnern – oder dient das Schweigen, das Vergessen womöglich dem Schutz von Gemeinschaften, Beziehungen?

Die Nobelpreis-Jury hat mit Kazuo Ishiguro einen stillen Zweifler geehrt, der die große Bühne bislang nicht suchte – und doch die literarische Landschaft entscheidend geprägt hat. Das ist, in Zeiten des grellen Lautsprechertums und Rechthabenmüssens, eine Wohltat.