Olpe. Die Geschichte hinter dem Foto: Der syrische Pianist Aeham Ahmad liest am 9. Oktober aus seiner Biographie „Und die Vögel werden singen“.

Es gibt Bilder, die schreiben Geschichte. Ein junger Mann spielt mitten in den Ruinen von Yarmouk bei Damaskus auf einem Klavier, das auf einem Rollwagen steht. Mit seinen Liedern versucht er, gegen den Schrecken des Krieges anzusingen.

Und dann gibt es Bilder, die vielleicht einmal einen Hollywoodfilm groß machen werden. Wenige Monate später sc hleicht derselbe junge Mann, kahlgeschoren und in schlecht sitzenden Klamotten aus der Altkleidersammlung, um ein Gebäude in der sauerländischen Kleinstadt Olpe herum. Er sieht die Skulptur des Flötenspielers im Vorgarten, er vermutet, dass es sich um eine Musikschule handelt, aber er traut sich nicht hinein. Bis er einer freundlichen Sekretärin begegnet und wenig später endlich, endlich wieder an einem Flügel sitzt.

Aeham Ahmad steht in Olpe an einem Klavier. Er ist der Pianist aus Yarmouk, den es nach seiner Flucht nach Olpe verschlagen hatte
Aeham Ahmad steht in Olpe an einem Klavier. Er ist der Pianist aus Yarmouk, den es nach seiner Flucht nach Olpe verschlagen hatte © Ralf Rottmann

Heute ist der Pianist Aeham Ahmad berühmt. Er gibt unzählige Konzerte und unzählige Interviews. In Olpe findet er nach seiner Flucht aus Syrien seine Seele wieder. Dafür hat er sich am 7. Mai mit eine m Auftritt zusammen mit den Musikschuldozenten bedankt. Danach ist er zur Kreissporthalle gegangen, seiner ehemaligen Unterkunft, und hat im Imbiss gegenüber einen Döner bestellt. „So wie ich es damals gerne gemacht hätte. Und die ganze Zeit über dachte ich: Ich bin jetzt ein anderer.“ Am Montag, 9. Oktober, kommt Aeham Ahmad erneut nach Olpe zurück und liest dort aus seiner Biographie „Und die Vögel werden singen“, die am 5. Oktober bei Fischer erscheint.

Flucht über die Balkanroute

70 Euro hat Ahmad noch in der Tasche, als er am 1. Oktober 2015 der Stadt Olpe als Asylbewerber zugewiesen wird. Seine Ersparnisse sind für die Schleuser draufgegangen, die ihn quer durch umkämpfte syrische Gebiete in die Türkei und von dort übers Mittelmeer nach Lesbos geschmuggelt haben, von wo es über die Balkanroute weiter nach Deutschland geht. Doch diese traumatische Flucht bildet nur den kleineren Teil des rund 360 Seiten starken Buches, das auf Gesprächen basiert, die er mit Sandra Hetzl und Ariel Hauptmeier geführt hat. Viel wichtiger ist Ahmad etwas anderes: „Das ist die Geschichte hinter jenem Foto, das um die Welt ging. Und jeder, der es künftig sieht, wird nun wissen: Bilder erzählen nie einen Anfang. Und sie verschweigen, was nach ihnen kommt.“

Denn Aeham Ahmad, der Pianist, ist eben kein Wirtschaftsflüchtling oder verkappter Terrorist oder potenzieller Krimineller. Er steht mit seinem Schicksal für Zigtausende von bürgerlichen Menschen, die durch einen Krieg, den sie nicht verursacht haben und den sie nicht beenden können, ihre Wurzeln verloren haben. „Heute, in Deutschland, werde ich manchmal gefragt: Welche Farbe hatte dein Zelt dort im Palästinenserlager? Ach du lieber Himmel! In einem Zelt soll ich gesessen haben? Mir gehörte eine Eigentumswohnung, eine große und schöne. Unser Musikladen florierte. Bis der Krieg kam und alles zerstörte. Bis eine Granate mir die Sehnen zweier Finger durchschnitt. Bis der IS mein Klavier verbrannte. Bis ich in einen Kerker geworfen wurde. Bis ich abhauen konnte.“

Viele Asylsuchende leiden unter der Sprachlosigkeit, die ihre Flucht in ein fremdes Land mit sich bringt. Aeham Ahmad hat seine Musik. Er hatte sie bereits in den Trümmern, er hat sie auch in der Kreissporthalle in Olpe, wo er Schicksalsgenossen auf einem gespendeten Keyboard vorspielt. Er will mit seinen Liedern Brücken bauen. Er will für den Frieden singen.

Der Fotograf Niraz Saied, der Urheber des berühmten Trümmerfotos, hat Kontakte zu Nachrichtenagenturen; seinem Bild des Klavierspielers folgen Interviews und Videos auf You Tube. Aeham Ahmad wird auf seiner Flucht ein Facebook-Tagebuch führen. Diese Parallelität von digitaler Medialität und archaischen, lebensbedrohlichen Situationen ist kennzeichnend für die Fluchtkatastrophe unserer Zeit. Ein TV-Team gibt Ahmad an der türkischen Küste einen Peilsender und eine Kamera, damit soll er die Schlauchbootüberfahrt filmen. Vor dem Ertrinken retten wird ihn das mediale Interesse nicht. Das erste Schlauchboot kentert. Aeham kann im Gegensatz zu den meisten Syrern aus dem Binnenland schwimmen, deshalb überlebt er. Niraz Saied ist inzwischen in den syrischen Gefängnissen verschollen.

Der Vater, ein Hochzeitsmusiker

Ahmads Mutter ist Syrerin und Musiklehrerin. Sein Vater ist Palästinenser und blind. Er lässt sich von seiner Behinderung nicht unterkriegen, arbeitet als Hochzeitsmusiker, später zusätzlich als Klavierstimmer und Lautenbauer, die Familie eröffnet schließlich ein Musikgeschäft und eine Lautenfabrik. Die Ahmads leben in Yarmouk, dem Stadtteil von Damaskus, der vor vielen Jahrzehnten den palästinensischen Flüchtlingen zugewiesen wurde.

Der Vater bringt Aeham zur klassischen Klavierausbildung, die eigentlich in Syrien der Oberschicht vorbehalten ist, er drängt ihn zu Bach, Mozart und Beethoven. Ahmad arbeitet später im Familienbetrieb als Musiklehrer. Er heiratet jung, bald kommt das erste Kind, und dann fallen die Bomben.

Ein Monat in der Olper Unterkunft

Einen Monat verbringt der Musiker in der Olper Flüchtlingsunterkunft. Er verträgt das Essen nicht gut, fürchtet aber, von seinen letzten 70 Euro auch nur ein paar Cent für einen Döner vom Imbiss gegenüber auszugeben. Die Honigportions-Töpfchen, die es zum Frühstück gibt, hortet er aus Angst, wieder hungern zu müssen. Ahmad sehnt sich nach seiner Familie. Olpe kennt er bald besser als die Olper selbst, die Sorge treibt ihn zu ruhelosen Spaziergängen. Eines Tages fasst er sich ein Herz und betritt die Musikschule, wo ihm, es sind Ferien, Mechthild Volmer ganz unkompliziert die Tür zum Saal mit dem Flügel aufschließt. „Ich zog meine Jacke aus und setzte mich. Ich war durstig nach Musik, so durstig. Nun trank ich.“

Kurz darauf wird er nach München gefahren, zum „Stars sagen Danke“-Auftritt. Er singt ein Duett mit Judith Holofernes, Herbert Grönemeyer schenkt ihm ein E-Piano, und von da an wird er der bekannte Pianist aus den Trümmern sein und wie ein Getriebener Konzerte geben. Der Preis der Flucht ist hoch. „Stille Räume machen mir Angst“, schreibt er in seinem Buch. Inzwischen sind seine Frau und seine Söhne bei ihm in Wiesbaden. Der älteste hat ihn bei der Ankunft Onkel genannt. Immer noch spielt er fast jeden Abend vor Publikum. Denn er möchte diesem Land, das ihn aufgenommen hat, etwas zurückgeben. „Wenn du vor Hunger und Bomben fliehst, lässt du deine Welt zurück. Und verwandelst dich in eine jener grauen Gestalten, die schon immer im Elend gelebt haben müssen und nun nach Europa kommen, um teilzuhaben am Reichtum. So behaupten es jene, die nicht verstehen, wer wir sind und woher wir kommen – die Angst haben vor uns.“

Der Kontakt zur Musikschule Olpe hat überdauert. Als „Aeham Ahmad Ensemble“ begleiten die Dozenten um Musikschulleiter Jörg Klüser am 9. Oktober die Lesung musikalisch.