Griechische Mythologie, römische Kaiser und aktuelle US-Politik: Salman Rushdie erzählt in „Golden House“ vom Zustand der Welt
Murray Mansion, Greenvich Village, New York – beste Gegend. Hier steht am Rande eines schönen Gartens ein noch schöneres Haus. Groß ist es und aus dem Jahr 1840, ein Beaux-Arts-Gebäude, das in den 1920ern neoklassizistisch umgestaltet wurde. Es ist das titelgebende Golden House, das erstaunlich lange leer gestanden hat. Es ist das Golden House, weil nun die Familie Golden einzieht: Vater Nero und seine drei Söhne Petya (42), Apu (41) und D (24). Die Klarnamen sind Petronius, Lucius Apuleius und Dionysos, allesamt mythologisch beladene Namen, wie auch der des Vaters, dessen Vorbild als römischer Kaiser für ein Ende der Zeiten steht. Es sind natürlich falsche Namen, denn die mutterlose Familie plant hier einen Neustart, komplett und aus schlechten Gründen unter Verleugnung ihrer indischen Herkunft.
New York ist Supermans Heimatstadt und also genau richtig für Nero Golden. Der ist jenseits der Siebzig, steinreich und spielt Tennis, Schach und manchmal auch eine Guadagnini-Geige aus dem Jahr 1745. Mit den Muskeln spielt er auch, denn er ist einer, der seine Dinge durchzieht. Es hatte ihn ans andere Ende der Welt gezogen, weil nach dem blutigen 12. März 1993 von Bombay zu viel Schmutz an seinem Stecken offenbar wurde und er eine neue Identität brauchte. Akribisch hat er sich noch anderthalb Jahrzehnte auf sein Exil vorbereitet. Nun ist er da: klein, gedrungen, ölig glattes Haar, smaragdbesetzte Goldringe, blitzendes Gebiss und ledrig dunkle Haut. Ein Mann der Tat, ein Despot, ein neuer Amerikaner. Wir sind im Jahr 2008 und bald wird der zweite neue Amerikaner Barack Obama heißen. Noch ein Hoffnungsträger, nach dessen mit Tränen der Rührung begrüßter Wahl auch seine engsten Anhänger wissen: „Und nun wird er uns natürlich enttäuschen.“
Wir sind im dreizehnten Roman von Salman Rushdie, der nun weltweit parallel erscheint. Und er enttäuscht uns nicht, im Gegenteil. Wenn in der Vergangenheit oft seine Stoffe mit dem indisch, britisch, amerikanischen Großautor durchgegangen sind, bleibt er hier bei der Stange, ohne allerdings mit seinem enzyklopädischen Wissen hinterm Berg zu halten. Klug streut er es in den zupackenden Gang der Ereignisse ein, mal als neckische Zugabe, mal als doppelten Boden und immer zur Steigerung des Verständnisses seiner unglaublichen Geschichte. Spät im Text gibt es den Verweis auf einen Filmregisseur, der vor den Dreharbeiten einen muslimischen Drohbrief bekommt. Das ist ein autobiografischer Fingerzeig, auf die 1989 vom Ayatolla Khomeini verhängte Fatwa, die den Autor in den Untergrund trieb. Ein siebenstelliges Kopfgeld stellte der Mordaufruf in Aussicht. Die Geschichte ist bekannt, um sie geht es hier nur am Rande. Es geht um Konflikte auf der Achse alte und neue Welt, die bis ins Amerika des Donald Trump geführt werden, um das Spiel mit Identitäten, Migration, Angst, Mythologie, Transformation, Rationalität, Mut und die Rolle der Kunst beim Verständnis des ganzen Weltkuddelmuddels. Es geht um ein panoramaartiges Porträt unserer Zeit, dargeboten in opernhaftem Realismus als gesteigerter Generationskonflikt. Vor dem Vater sterben die Söhne, weil sie alle Schaden genommen haben an den allgegenwärtigen Verwerfungen. Sie sind die Strafen für den Vater und seine Bürde, weil sie ihr Innerstes nicht wirklich an das Neue adaptieren können, auch wenn sie scheinbare Erfolge in New York haben. Sie werden von der Hand alter Feinde getötet, töten sich selbst oder sind Opfer eines durchgeknallten Afghanistan-Veterans.
Es geht um Amerika, und alles bekommt ausführlich Raum in diesem blitzgescheiten Pageturner. Schöne neue Welt, wo sich eine junge Russin den alternden Nero als ihren Zar erwählt, bald die Regeln im Haus bestimmt und nach einem irren Ehekontrakt monströs wird wie Lady Macbeth. Noch einer aus der nächsten Generation nach der Vollbeschäftigung und dem angstfreien Sex erzählt das alles, als stünde er an einem hitchcockschen Fenster zum Hof: René Unterlinden, ein angehender Drehbuchschreiber, der in dieser ganzen umfunktionierten Großer-Gatsby-Golden-Geschichte zum Chronisten wird und immer mehr verwickelt ist. Wie eine fliegende Untertasse landete die entwurzelte Familie in seinen bis dahin schaumgebremsten Schreibversuchen und er schließlich im Bett der schönen Russin. Mit dem Sturz der ihre Ethnien verleugnenden Reichen spült es ihn nach oben und er tappt als verantwortlicher Vormund aus der Falle hinein in ein Amerika, das nun in einem „endzeitlichen Irrsinn“ ein „gruseliger Clown“ regiert. Wie lebt man mit über 60 Millionen, die ihn an die Macht brachten, und über 90 Millionen, die daheim blieben? In einem grandiosen Schlussbild geht eine Bildung und Kunst verachtende Präsidentenkreatur wie Caesar nach Washington. Die Welt ist wirr, dieser wundervolle Roman entschlüsselt vieles, denn „wäre die Natur des Menschen nicht ein Mysterium, bräuchten wir keine Dichter.“ Großartig, wenn sie sich so zu Wort melden, wie in diesem Fall.
Salman Rushdie: Golden House. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Herting. C. Bertelsmann. 512 Seiten. 25 Euro