Essen. In ihrem großartigen Roman „Was man von hier aus sehen kann“ erforscht Mariana Leky den Mikrokosmos Dorf.
Das Okapi hat Schenkel wie ein Zebra, Hüften wie ein Tapir, es hat Rehaugen und Mausohren und ist ein „abwegiges Tier“, ist „absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin“. Denn dort, in Selmas Träumen, ist das Okapi ein Todesbote – jedenfalls glaubt Selma das, und die Nachbarn in ihrem kleinen Dorf glauben das auch. Deshalb bewegen sie sich „als habe sich auf allen Wegen Blitzeis gebildet“, sie fürchten noch den greisesten Hofhund oder meinen, nun wäre es endlich Zeit, „mit einer verschwiegenen Wahrheit herauszurücken“. Dabei kommt diesmal doch der Tod durch die Tür, buchstäblich, und beschert Mariana Lekys grandiosem neuen Roman „Was man von hier aus sehen kann“ einen Zeitsprung von gleich mehreren Jahren – sowie einen echten buddhistischen Mönch in Kutte, was im Westerwald kaum wahrscheinlicher wirkt als ein Okapi.
Der Provinzroman hatte zuletzt einige Konjunktur in der deutschen Gegenwartsliteratur, von Juli Zehs Dorfepos „Unterleuten“ über die Eifelromane eines Norbert Scheuer bis hin zu Robert Seethalers Überraschungserfolg „Ein ganzes Leben“. Auch Mariana Lekys Werk schöpft aus dem Fundus skurriler Figuren und der erzwungenen Enge der Versuchsanordnung. Dabei aber findet sie zu einem ganz eigenen, lakonischen und hochkomischen Tonfall. Und so hat es der vierte Roman der 1973 in Köln geborenen Autorin nun gar auf die Bestsellerliste geschafft. Ich-Erzählerin Luise ist die Enkelin von Selma, die aussieht wie Rudi Carrell (was lange niemand sieht) und geliebt von ihrem Nachbarn, dem Optiker (was jeder sieht, außer Selma). Selma und der Optiker sind Luises Ersatzfamilie: Ihre Mutter hat nie Zeit und später ein Verhältnis mit Eisdielenbesitzer Alberto, ihr Vater macht erst eine Psychoanalyse und reist dann um die Welt, weil man nur in der Ferne wirklich wird. Zurück lässt er seinen Hund, Alaska. Als der einmal verschwindet, begegnet Selma auf ihrer Suche im Wald Frederik: Der ist Mönch und lebt eigentlich in Japan. Luise ruft ihren Vater an: „Ich habe ihn gefunden, Papa“, sagt sie, „auch den Hund.“ Nur, dass es dann doch noch ein paar Jahre dauert mit der Liebe. Weil Frederik findet, sie gehören nicht zusammen. Aber an einem Okapi gehört ja auch nichts zusammen, findet Luise. Und es lebt trotzdem.
Mit einem scharfen Blick für kleinste Details und einem guten Gefühl für die rechte Balance zwischen Komik und Tragik beschert Mariana Leky allergrößtes Lesevergnügen: Jeder Satz sitzt, jede Figur lebt. Wie sie die Schicksale des kleinen Dorfes einordnet in die größeren Zusammenhänge, wie sie Ursachen und Wirkungen zusammenbringt, Saat und Sünden der Eltern, Ernte und Sühne der Kinder, das zeugt von geradezu buddhistischer Gelassenheit. Ein Buch, das mit seinem bedächtigen Witz höchst tröstlich wirkt in unserer rasenden Zeit – und das zum Wiederundwiederlesen ins Regal gehört.
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Dumont Verlag, 320 Seiten, 20 €