ESSEN. . Vor 200 Jahren wurde Henry David Thoreau geboren. Ein Blick auf einen Amerikaner, dessen legendäre Schriften auch heute noch hochaktuell sind.
„Die Natur will dich zurück“, titelt das Magazin „Walden“ und fordert so forsch wie hochglänzend: Lass dich raus! Dass dazu High-Tech-Gaskocher und Profi-Messersets nötig sein sollen, dürfte allerdings kaum im Sinne des Erfinders sein, des (vermeintlichen) geistigen Vaters der Outdoor-Pilgerer. Einmal mehr wird Henry David Thoreau hier vereinnahmt. Und so potenziert sich das Staunen darüber, auf wie vielfältige Weise der amerikanische Naturdichter und Protestliterat Einfluss nahm: Von Mahatma Gandhi über Martin Luther King, von den Hippies bis hin zur Occupy-Bewegung berufen sich Widerständler und Widerspenstige der Welt auf seine Anstiftungen zum zivilen Ungehorsam, von den Einflüssen auf Öko-, Simplify- und Selbstversorger-Bewegungen aller Art ganz zu schweigen.
„Gegen Ende März 1845 borgte ich mir eine Axt, ging hinunter in den Wald zum Waldenteich, in dessen unmittelbarer Nähe ich mir ein Haus zu bauen beabsichtigte“: So beschreibt es Thoreau in seinem bekanntesten Werk „Walden“. Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage lebte er in seiner Hütte am Waldensee (im Roman freilich auf ein Jahr zusammengeschnurrt), baute Bohnen und Kartoffeln an, wanderte und schrieb, empfing aber durchaus auch Besuch und ging jeden zweiten Tag in seiner Heimatstadt Concord, Massachusetts, spazieren – der Einsiedler, er war ja höchstens ein halber. Und seine Mission war nicht das Überleben, sondern das Leben: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten“, schreibt er – nicht Entsagung wollte er üben („außer, es wurde unumgänglich notwendig“), aber doch „so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“.
Lange Ausflüge in die Natur
Entschleunigung, Bewusstsein, Intensität und radikale Individualität: Dies waren die großen Lebensthemen Thoreaus. Vor 200 Jahren, am 12. Juli 1817 in der 2000-Seelen-Stadt Concord im Ostküstenstaat Massachusetts geboren, wuchs Thoreau in einem toleranten Elternhaus auf: Väterlicherseits lassen sich Hugenotten als Vorfahren ausmachen, die Thiereaux gelangen via England nach Boston; Thoreaus’ Vater John versucht sich mit zunächst geringem Erfolg als Ladenbesitzer und gründet schließlich eine Bleistiftmanufaktur. Der Stammbaum seiner Mutter Cynthia weist schottische Presbyterianer auf und englische Quäker, sie selbst wird als sehr bildungsbeflissene, energische, kommunikative Person beschrieben, die des Geldes wegen Pensionsgäste aufnimmt und die Familie – Henry David hat einen älteren Bruder, John, und zwei Schwestern, Helen und die jüngere Sophia – auf langen Ausflügen für die Natur zu begeistern versteht.
Auch interessant
Der Glaube spielt eine Rolle in dieser Familie, deren Mitglieder sich dennoch partout nicht auf eine Kirche festlegen lassen wollen, Gottesdienste dieser und jener Gemeinde besuchen. Als Thoreau 18 Jahre alt wird und Kirchensteuer zahlen soll, tritt er gar ganz aus; längst ist die Natur seine Religion. Mit 16 Jahren schafft er es (knapp) auf die Harvard-Universität und bleibt vier Jahre. In der Bibliothek leiht er im Frühjahr 1837 Ralph Waldo Emersons Transzendenz-Schrift „Natur“ aus – eine Erweckung. Auch Emerson lebt in Concord, im Herbst 1837 lernen die beiden sich kennen, es ist der Beginn einer prägenden Freundschaft mit dem 14 Jahre älteren Intellektuellen, der ihm nicht zuletzt das Waldgrundstück am Waldensee zur Verfügung stellte. Nach Studienabschluss versucht sich Thoreau kurz als Lehrer an der Center School in Concord, das Ende dieser Karriere ist Legende: Thoreau weigert sich, die vorgeschriebene Prügelstrafe zur Anwendung zu bringen.
Ruhm als verlässlicher Landvermesser
Stattdessen gründet er mit seinem Bruder John eine eigene Schule, die er bis zu dessen frühem Tod (durch Tuberkulose) 1842 betreibt, verdingt sich in späteren Jahren mit handwerklicher Arbeit, bringt es gar zu lokalem Ruhm als verlässlicher Landvermesser und hilft immer wieder – auch trotz seines eher bescheidenen Bucherfolgs von 1854 und kleineren Lesereisen – in der Manufaktur des Vaters. Wo er, Kritiker aller Optimierungstendenzen des Kapitalismus, der Firma aber doch durch Findigkeit zum Aufschwung verhilft: Indem er die Bleistifte nicht mehr aus zwei Hälften zusammensetzt, sondern die Graphitmine durch ein feines Bohrloch in den Stift schiebt. Eine kleine Revolution auch dies!
Die Wirtschaft, das Wirtschaften beschäftigen Thoreau. Wieviel braucht ein Mensch zum Leben? In „Walden“ listet Thoreau akribisch seine Ausgaben auf. Als er in einem Jahr so viele Bohnen und Kartoffeln anbaut, dass er sie gewinnbringend verkaufen kann – da baut er im nächsten Jahr weniger an. Zeit ist wichtiger als Geld. Zugleich, das betont Dieter Schulz in einer literarischen Spurensuche, durchzieht pure Ironie die Heldengeschichte des Hüttenbewohners: Es ist (auch) eine Burleske, die ihre erzählerischen Blasen so platzen lässt, wie noch jede Wirtschaftsblase geplatzt ist. Der Humor, mit der hier der Traum vom „einfachen“ Leben betrachtet wird, dürfte manch’ eiferndem Aktivisten hernach entgangen sein; dies ist gar keine Lebensanleitung!
Aufruf zum zivilen Ungehorsam
Und auch Thoreaus Aufruf zum zivilen Ungehorsam, den Gandhi und King im revolutionären Gepäck trugen, hat einen komischen, grotesken Kern. Als er am 23. Juli 1846 einen Schuh vom Schuster abholen will, wartet dort der Dorfpolizist auf ihn: Thoreau hat seit Jahren keine Kopfsteuer bezahlt. Es kommt zum Streit, Thoreau geht für eine Nacht ins Gefängnis. Zwei Jahre später nutzt er diese Episode in einer flammenden Rede gegen die Sklaverei, die nach seinem Tod in einer Essaysammlung den Titel „Civil Disobedience“ (Ziviler Ungehorsam) erhält (offen bleibt die Frage, ob die Steuerverweigerung tatsächlich überhaupt oder von Anfang an politisch motiviert war). Er wolle nicht, schreibt Thoreau, „als Mitglied irgendeiner Vereinigung angesehen werden, in die ich nicht eingetreten bin“.
Stattdessen erträumt er sich einen Staat, „der es nicht für unvereinbar mit seiner Stellung hielte, wenn einige ihm fernblieben, solange sie nur alle nachbarlichen, mitmenschlichen Pflichten erfüllten“.
Früher Tod durch Tuberkulose
Das Prinzip des Einzelgängertums verwirklichte Thoreau auch im Privaten, blieb trotz einiger Schwärmereien unverheiratet – über eine homosexuelle Tendenz gibt es unter Biografen Spekulationen, die jedoch keinen Beleg vorweisen. Biograf Frank Schäfer verweist auf die „prüde, geradezu asexuelle Atmosphäre“, in der Thoreau aufgewachsen ist: „Es gehört gewissermaßen zur Familientradition, ledig zu bleiben.“ Und so war, vermutet Schäfer, Thoreaux bei seinem frühen Tod (die Tuberkulose, erneut) 1862 tatsächlich noch Jungfrau. Wie heißt es doch im letzten Absatz von „Walden“: „Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.“