Köln. . Was tun, wenn das neue Album nicht fertig ist? Arcade Fire macht, was sie am besten können: Alles remixen und hier und heiß servieren.

Wer alles in jedem Moment verspricht, muss dennoch eine Auswahl treffen. Everything Now – alles immer und sofort ist der zeitkritische Titel des neuen Albums der kanadischen Band „Arcade Fire“. Die Ironie will es, dass es das Album noch nicht gibt und sich die siebenköpfige Band nur warmspielt. Den Tanzbrunnen jedenfalls füllen Arcade Fire mühelos, eigentlich sind sie stadiontauglich.

Alle Lieder erwachen zu einem Song

Was also tun? Das, was das Werkverzeichnis von Arcade Fire nahelegt: Aus jedem der bislang vier Alben dreieinhalb Lieder plus die drei Songs vom kommenden Album. Und diese so zu erwecken als seien sie ein einziger Song. Every­thing Now. Das Beste der 70er, 80er und 90er und von heute, so wie es viele Radiosender versprechen. Arcade Fire macht es auf unfassbar intelligente Weise wahr.

Auf der Isle of Wight trug Régine Chassagne mal die Neonhandschuhe in Pink.
Auf der Isle of Wight trug Régine Chassagne mal die Neonhandschuhe in Pink. © David Jensen

Everything Now – der Auftakt und das Versprechen des Abends – klingt wie der Song, den Abba vergessen haben einzuspielen: Federnde Discobeats, watteweiche Synthesizer, hymnischer, mehr­stimmiger Gesang. Ein Klang, der leicht überhören lässt, dass diese Band kritisch fragt, was mit uns geschieht, wenn alles immer verfügbar ist – und wir folglich weder wählen können noch müssen.

Es geht weiter mit „Rebellion“, ein Song, der sich anhört, als hätte ein irrer DJ geübt, einen Cure-Song zu remixen, eine Art flirrende Achterbahnfahrt mit irrsinnigen Brems- und Beschleunigungsmanövern. Über Haiti – von dort floh Sängerin Régine Chassagne einst vor der Diktatur, heute peitscht sie als Lederdiva mit Neonarmreifen die Menge zur Ekstase.

Win Butler, ihr Gatte, Sänger und Kopf der Band, verbindet derweil die Songs mit flächigen Synthiesounds. Ein kleines Mischpult neben dem Mikroständer ermöglicht es ihm, aus der Nummernrevue eines Popkonzerts mehr und mehr den Flow eines DJs im Club werden zu lassen.

Kein Wunder also, dass sich selbst an diesem noch viel zu hellen Abend der Tanzbrunnen in einen solchen verwandelt und aus Zuhörern Tänzer der Werkschau von Arcade Fire werden, wo Blondie und Springsteen anklingen und karibische Polyrhythmen untergemengt werden. Alles wird eines und doch nicht nivelliert. Bis das Fest des „Alles Jetzt“ mit dem Gongschlag um 22 Uhr endet. Die Zugabe hat die Band direkt drangehängt, keine Zeit zu verlieren, dem Flow und dem Zapfenstreich zuliebe.

Die sieben Multi-Instrumenatlisten auf der Bühne im Kölner Tanzbrunnen.
Die sieben Multi-Instrumenatlisten auf der Bühne im Kölner Tanzbrunnen. © Thomas Brill

Von wegen. Das Publikum feiert frenetisch, minutenlang. Und kein Ordnungsamt kann verbieten, dass Win Butler unverstärkt über die Saiten der E-Gitarre streicht und die Menschen stadiongleich die Melodie des letzten Songs aufnehmen und singen.

Arcade Fire und der Augenblick, der so schön ist, dass die Menge im Hier und Jetzt verweilen will – allein, die teuflische Faust des Ordnungsamtes sitzt ihr im Nacken. Ab morgen sind wir wieder mit diesen höllischen Radiosendern geplagt, die musikalisch ebenfalls alles jetzt versprechen – und nur fades Echo sind. Arcade Fire könnte sie alle ersetzen. Naja, zumindest drei Viertel von ihnen.