Gelsenkirchen. . Coup zum Ende der Opernsaison: Am Musiktheater feiert eine grandiose Inszenierung von „Hoffmanns Erzählung“ Premiere

Die Opernsaison an Rhein und Ruhr endet mit einem Coup. So packend, so charmant, so witzig, so finster, so musikalisch ambitioniert: „Hoffmanns Erzählungen“ am Musiktheater im Revier ist ein echter Wurf.

Dabei ist der Stoff bei Regisseuren durchaus gefürchtet, die Story chiffriert, dramatische Geschlossenheit Mangelware. Jacques Offenbach bedeutendste Oper blieb erstens unvollendet, zweitens ist auch das Geschaffene alles andere als stringent. Die Stückvorlage ließ den deutschen Dichter E. T. A. Hoffmann, versoffen und professionell liebesunglücklich, in einer rückwärtig angetretenen Reise drei Frauengestalten seiner gespensterromantischen Literatur begegnen. Und nicht nur Hoffmanns weibliche Idole (eine perfekte Puppe, eine fragile Künstlerin, eine erfahrene Mätresse) verlassen die Literatur, es ihrem Schöpfer schwer zu machen. Ein vervierfachter Finsterling steht allem Herzensglück unverrückbar im Wege.

Die Kneipe bleibt die stete Bühne

Man darf selig staunen, wie mühelos Michiel Dijkema, der dem Haus („Die Zauberflöte“) bereits starke Inszenierungen schenkte, diese Stränge aufnimmt. Der Niederländer besänftigt die Unwucht der „Phantastischen Oper“ mit ei­nem raffinierten Griff. Er lässt die Liebesgeister schlicht aus der Flasche. Wo sonst Lutters Zechkeller allein der Eröffnung dient, aus dem der Hoffmanns ins selige Spinnen gerät, bleibt die Kneipe hier gute drei Stunden lang die stete Bühne (von Dijkema selbst gestaltet), ihre Tische das Podest für Wohl und Wehe von Begehren, Sehnsucht, Erotik.

Bald aber erkalten die johlenden Trinkkumpanen: Dijkema tauscht die allesamt Offenbach-artigen Herren (unglaublich gut: der Opernchor mit feinen Reverenzen an die Liedertafeln des 19.Jahrhunderts) immer wieder gegen ein deckungsgleiches Puppenensemble. Gleich zwei Ebenen werden so auf einen Schlag eingezogen – wir sehen, wie bürgerliche Amüsierbereitschaft mit einem Bein im Schattenreich steht. Zugleich aber spielt die Regie ihre filmische Karte aus: Über die Leinwand zieht sich zuverlässig Stummfilm-Patina und legiert die schwarzweißen Schreckenswelten eines Murnau mit den Abgründen deutscher Romantik.

Der Abend profitiert von Dijkemas Lust, die Liebes-Episode des armen Poeten extrem voneinander abzuheben. Deftiger, wiewohl feinst choreografierter Slapstick regiert den Tanz ums Maschinenmädchen Olympia, als diabolische Elegie deutet die Inszenierung den Antonia-Akt. Und Dijkema, der mit Jula Reindells schillernden Biedermeierkostümen nicht ungefällig kokettiert, zückt im Giulietta-Akt das Messer kalter Entlarvung, da das Publikum schunkelbereit die berühmten Barcarole erwartet: Unter der schwarzen Gondel ist die Erotik längst zum Zahltag verkommen.

Famos genau in der Typengestaltung zeigt dieser Abend selbst in den Momenten, in denen die Offenbach-Fassung Jean-Christophe Kecks mit Längen aufwartet, kaum Ermüdungserscheinungen. Musikalisch ist das ein nahezu durchweg glänzender Abend. Schon jetzt trauert man, dass Valtteri Rauhalammis Karriere ihn an Hannovers Staatsoper führt. Westfalens Neue Philharmonie hört man mit diesem hochbegabten Dirigenten in Bestform. Der Finne langt richtig zu, fordert großes, unwiderstehlich theatralisches Pathos und verliert keinen Augenblick an Binnenspannung. Das Orchester ist in Top-Form: grandios, das süße Gift der Violinen, enorm gut aufgelegt die Hörner und die am Canal Grande bedrohlich schwirrenden Klarinetten – begeisternd!

Gelsenkirchen feiert ein Sängerfest

Von Urban Malmberg abgesehen, den das Schurken-Quartett einfach überfordert, feiert Gelsenkirchen ein Sängerfest. Joachim Bäckströms Hoffmann hat noblen Schmelz, Wärme, Seele, vielleicht keine Spitzenton-Diva, aber ein Tenor von fabelhaft viriler Eleganz. Almuth Herbst ist seine Muse, ein doppelbödiger Mezzo im schönsten Sinne. Ganz aus dem Häuschen gerät das Publikum bei Dongmin Lees Olympia, die mit verschwenderischem Esprit und zwerchfellerschütternder Komik den Koloratur-Roboter gibt. Petra Schmidts Giulietta ist von wissender Reife. In der Unschuld leuchtet Solen Mainguenés Antonia (nah am Exorzismus-Opfer) anrührend ihr Schicksal aus.

Es gab ausdauernden Jubel – das Haus hat einen Knüller aus der Taufe gehoben. Er wird auch nach den Ferien im Spielplan bleiben.

Hoffmanns Erzählungen, Musiktheater im Revier, ca. 3 Stunden 15 Minuten. Karten (27-47 €) unter 0209 - 40 97 200. Weitere Infos: www.musiktheater-im-revier.de

Nächste Aufführungen: 18., 22., 24., 30. Juni und 9. Juli.