Kassel. In Kassel startet die 14. Documenta: Ein Besuch beim Büchertempel, sprechenden Obelisken, Blutmühlen und Fremden auf Kaufhausdächern.

Die 14. Documenta quillt über von Symbolen. Sie ist politisch und plakativ wie noch kaum eine zuvor. Schon die symbolische Entscheidung des polnischen Kurators Adam Szymczyk, diese Documenta im April in Athen zu eröffnen, lebte von der Idee, dass man dort, am Ursprungsort der Demokratie deren Gefährdung durch den weltumspannenden, weltenstürzenden Finanzkapitalismus mit den Mitteln der Kunst erforschen und herausstellen können würde.

In Kassel wird dies nun ab Samstag fortgeschrieben, und der sichtbarste Ausdruck dafür ist der „Parthenon der Bücher“ der Argentinierin Marta Minujin: Ein Metallgerüst in Form eines griechischen Tempels, das gut 2000 Quadratmeter überdacht und dessen Säulen nach und nach mit verbotenen Büchern verkleidet werden – ausgerechnet auf dem Friedrichsplatz, auf dem 1933 die Nazis ihre Bücherscheiterhaufen für Kassel errichteten.

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Über 50.000 Bände sind der Documenta schon aus aller Welt zugeschickt worden. Um das Gerüst vollständig einzukleiden, sind vielleicht noch einmal so viele nötig, aber es sind ja ab Samstag noch 100 Tage Zeit. Der Symbolwert ist allerdings nicht ganz unproblematisch, denn jedes Buch ist durch eine Plastikhülle nicht nur vor Wind und Wetter geschützt, sondern auch vor – Lesern. Hermetische Kunst.

Auch Jesus wird zitiert – in Beton

Und nichts bewegt die über 160 Künstler dieser Documenta-Ausgabe so sehr wie die weltweiten Flüchtlingsschicksale – plastisch, simpel und beeindruckend mit dem Fünf-Meter-Obelisken des gebürtigen Nigerianers Olu Oguibe auf dem ebenso zentralen wie zugigen Königsplatz der Stadt: Mit goldener Schrift ist in vier verschiedenen Sprachen ein Jesus-Zitat in den geschliffenen Beton eingelassen: „Ich war ein Fremdling und Ihr nahmt mich auf.“ Früher kündeten Obelisken von gewonnenen Kriegen. Auch die Skulptur des kurdischen Berliners Hiwa K. vor der Documenta-Halle: Dort sind 20 Abwasserröhren aufeinander geschichtet – in solchen Rohren haben sich Flüchtlinge versteckt, um von Patras nach Ancona zu gelangen. Kitschige Filmmusik und häusliche Inneneinrichtungen künden mehr von Überlebenstrotz als von Elend und Gefahr. Passanten sind enttäuscht, dass niemand in den Röhren übernachten wird.

Der Künstler Hiwa K. vor seiner Installation aus 20 Kanalröhren. In solchen Rohren haben sich Flüchtlinge versteckt, um von Patras nach Ancona zu gelange
Der Künstler Hiwa K. vor seiner Installation aus 20 Kanalröhren. In solchen Rohren haben sich Flüchtlinge versteckt, um von Patras nach Ancona zu gelange © dpa

Ein paar Hundert Meter weiter, in der Karlsaue, wo vor zehn Jahren der Holztür-Turm von Ai Weiwei vom Sturm gefleddert wurde, steht jetzt die „Blutmühle“ des Mexikaners Antonio Vega Macotela: Eine hölzerne Maschine, wie sie in Macotelas Heimat von versklavten Ureinwohnern angetrieben wurde, um Silbererz zu fördern; jetzt soll sie von Documenta-Besuchern betrieben werden und spuckt geprägte Münzen aus, wenn sie das tun. Im Friedericianum wiederum breitet diesmal das griechische Nationalmuseum seine Schätze aus; in der Rotunde gibt es täglich, fast stündlich Performances.

Eine Documenta der Performances

 „Staging: solo“ der Künstlerin M. Hassabi.
„Staging: solo“ der Künstlerin M. Hassabi. © dpa

Überhaupt wird es eine Documenta der Performances werden, und die besten bekommt man in einem abgrundhässlichen Festungsbau zu sehen, der „Neuen Hauptpost“, die in den 80er-Jahren mal neu war und inzwischen auch keine echte Hauptpost mehr ist, sondern überwiegend Leerstand, Fitnessstudio und Billigbürohaus. Dieses neue Documenta-Gebäude in Kassels Nordstadt, dem eher kunstfernen Multikulti- und Armuts-Stadtteil, der die internationale Hipster-Szene darum ganz besonders reizen wird, bietet junge, ebenfalls politische Kunst, von australischen Ab­origines, von thailändischen Ironie-Bildhauern und eben von Performance-Künstlern wie Maria Has­sabi, deren Tänzer nervenzehrend langsam durch den Raum schweben, gleiten, kriechen und den ratternden Kunstbetrieb für einen Moment stillzustellen vermögen, lyrisch, friedlich, frei („Staging“, 10.-18. Juni/11.-17. September); im dritten Stock balancieren junge Frauen in Toga-Kleidern und eleganten Arbeitsschuhen aus dem ehemaligen Jugoslawien Bücher von Marcel Proust auf dem Kopf über einen schwarz glänzenden Mode-Laufsteg.

Platz für klassische Entdeckungen

Aber malt denn niemand mehr? Keine Sorge, Entdeckungen der klassischen Art gibt es auf der Documenta auch: Die zart-verletzlichen Bilder der Schweizerin Miriam Cahn in der Documenta-Halle: „Koennteichsein“, etwa 35 Gemälde, Foto-Übermalungen, Zeichnungen, die viel sinnlicher als die meisten Installationen von Angst und Nacktsein der Menschen erzählen, von der Suche nach Schutz und Geborgenheit.

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Und wer dann wieder zum Friedrichsplatz zurückkehrt, erblickt auf einem Kaufhaus-Vordach wieder die nicht ganz geheueren, aber offenbar hilfsbedürftigen „Fremden“, die Thomas Schütte aus Keramik gebrannt hat. Vor 25 Jahren haben sie gehörig für Irritation gesorgt, das Thema ist nicht ganz neu.

Eulen auf Base-Caps

Der neue Symbolismus der Documenta gipfelt in der Eule als Logo. Im Fanshop der Documenta prangt sie auf Base-Caps, auf Klapphockern, Rucksäcken und Schlabberlätzchen. Wenn mal bloß keiner auf die Idee kommt, sie nach Athen zu tragen.