Berlin. . Am Freitag erscheint das neue Album „One More Light“. Melodiös wie nie, und eine Band-Therapie. Zuerst waren die Texte da, dann kam die Musik

Die machen jetzt Pop? Im Ernst? Ja. Auf ihrem siebten Album „One More Light“ klingen die Superstars aus L.A. wie Maroon 5. Beinharte Rockfreunde werden das übel finden. Aber sind Genres denn noch zeitgemäß? Ist heute nicht alles irgendwie Pop? Und haben Linkin Park nicht immer schon gemacht, was sie wollen?

„Die Identität der Band ist nach wie vor da,“ beharrt Mike Shinoda und fügt wie zur Verteidigung hinzu: „Immer, wenn wir neu loslegen, lautet die Frage ,Was können wir lernen?’ Für uns ist jedes Album eine Reise zu einem Ort, an dem wir noch nicht waren.“ Das gilt auch wörtlich. Das Interview auf einem weißen Berliner Luxushotelsofa ist schon zu Ende, da müssen die Frontleute Shinoda (40) und Chester Bennington (41) unbedingt noch von China erzählen: Wie es ihnen vor zwei Jahren gelang, zum ersten Mal fünf Konzerte dort zu spielen, auch in Megastädten wie Chongqing im Schatten der aufgeschlosseneren Metropolen. „Unter jungen Chinesen sind wir die populärste westliche Band überhaupt“, strunzt Shinoda ein wenig, „aber die Regierung und die Polizei waren sehr nervös. Kulturell verstehen uns die Älteren nicht, sie hatten Angst, dass wir Dinge tun, die zu unkontrollierbarem Verhalten führen.“

Man setzte den Behörden auseinander, dass Linkin Park zwar laute Musik mache, aber keinen politischen Plan betreibe, keinen Umsturz einleiten wolle. Chester Bennington: „Wir haben argumentiert, dass die Fans bei uns ihren Frust und ihre Ängste rausschreien können. Und dass sie dabei keine Aggression sondern Freude verspüren.“ Die Shows wurden genehmigt.

Eine enge Verbundenheit zwischen Band und Fans gibt es bei Linkin Park seit dem fulminanten, extrem erfolgreichen Debüt „Hybrid Theory“ aus dem Jahr 2000. Die andere Konstante: Man weiß nie, was als nächstes kommt. Ein neues Linkin-Park-Album ist immer auch eine Wundertüte. Bei „One More Light“, dem siebten Studioalbum, ist der Sound kaum wiederzuerkennen. Nicht hart, nicht Nu, sondern null Metal, das krasse Gegenstück zum krachigen Vorgänger „Hunting Party“. Stattdessen: Pop, wohin man hört. „Good Goodbye“, eine Kollaboration mit den Rappern Pusha T und Stormzy könnte auch von OneRepublic sein, „Sharp Edges“ ist ultramelodisch, „Heavy“, das Duett mit Popsängerin Kiiara, ganz und gar nicht heavy. „Das Album ist das poppigste, was wir je gemacht haben“, sagt Chester Bennington, und es folgt eine längere Rede darüber, dass stilübergreifend halt geil ist, was geil ist: „Auch Depeche Mode oder The Cure machen Pop. Für uns ist das kein Schimpfwort.“

Fast noch wichtiger als der Sound (Mike: „Wir wollten Lieder machen, die wir nur mit Gitarre und Gesang spielen können“) sei das Konzept: „Wir wünschen uns, dass die Menschen diese Platte als aufbauend und relevant für ihr Leben empfinden, so wie wir“, sagt Chester. Musik als Therapie, die alte Leier, aber bei „One More Light“ passt sie. „Wir haben wahnsinnig viel geredet. Mit uns, als Freunde. Die Frage war nicht ,Hey, alles gut?’, sondern ,Hey, wie geht es Dir wirklich?’“

„Ich habe das Leben gehasst“

Nicht nur bei Chester Bennington lautete die Antwort: Verdammt schlecht. Während Shinoda davon spricht, dass „jeder von uns in den letzten 18 Monaten mindestens ein Familienmitglied verloren hat“, sagt der Sänger: „Es war schlimm, ich habe das Leben gehasst. Es gab den Kollaps von vielen Dingen und den Wiederaufbau von vielen Dingen. Ich habe sehr hässliche, traumatische Dinge erlebt, zugleich war es schön, wie aufrichtig wir miteinander umgingen.“

Anders als sonst entstand jeder der zehn Songs auf Basis der Texte, in „Halfway Right“ etwa führt Chester eine heftige Auseinandersetzung mit sich selbst („damit ich wenigstens zur Hälfte recht habe, wenn ich es schon niemand anderem recht machen kann“), das nach vorn gehende „Battle Symphony“, gerade von der NBA zur Playoff-Hymne erkoren, ist ein Stück übers Aufraffen. Der wahnsinnig schöne, traurige Titelsong handelt vom Leben, vom Tod und davon „dass es uns alles andere als egal ist, wie sich der andere fühlt.“