Essen. Grenzen zu überschreiten, sich nicht zu sicher fühlen - auch das sind Eigenschaften des Klassik-Weltstars. Ein Gespräch mit Anne-Sophie Mutter.

  • Am 20. Mai kommt die große Geigerin Anne-Sophie Mutter zu einem Konzert in die Essener Philharmonie. Sie spielt Bruchs Violinkonzert.
  • Im Gespräch mit unserer Zeitung rät der Weltstar großen Talenten ab, sich „ganz oben zu fühlen“, das sei ganz sicher der falsche Weg.
  • Im Interview spricht die bedeutende Interpretin auch über das Publikum, Selfies und verrät, dass sie selbst Fan ist: von Roger Federer.

„Ach, dieser herrliche Saal“: Wer Anne-Sophie Mutter auf Essens Philharmonie anspricht, hat fast ein Heimspiel. Lars von der Gönna sprach mit dem Weltstar vor dem Essener Konzert über Erfolg, das Publikum und Roger Federer.

Ihre Karriere dauert nun staunenswerte 41 Jahre, bruchlos. Das ist Ihr Verdienst, aber denken Sie auch an begabte Kollegen, die ausgebootet wurden, weil der Klassik-Markt nach Neuem ruft?

Mutter: Aber ja. Der Satz „Qualität setzt sich durch“ ist illusorische Schönrednerei. Wir müssen da gar nicht erst von der Unterdrückung von Frauen sprechen, um zu sehen, wie große Begabungen an den Rand gedrängt worden sind und es werden. Heute präsentiert man junge Talente schnell und mit enormem Hype. Wenn da niemand musikalische Reifung im Auge hat, ist klar, dass das kein guter Weg ist.

Sie haben viel mit ganz jungen Talenten zu tun, auch durch Ihre Stiftung. Was raten Sie denen?

Ich versuche, sie auf ein Leben vorzubereiten, in dem es nun gar nicht um Glamour geht. Sondern auf ein Leben, in dem man für die Musik da ist – mit der Geduld und der Hoffnung, dass man als Musiker gehört werden wird.

Anne-Sophie Mutter – die Karriere der großen Geigerin dauert schon mehr als vier Jahrzehnte

Fragte Sie jemand: „Was muss ich wissen, wenn ich ganz oben bin...“

Sich ganz oben zu fühlen, ist erstmal der falsche Ansatz (lacht). Ich glaube, es gibt viele Berufe – von Juristen bis zu großen Köchen –, in denen es absolut tödlich ist, sich nicht beharrlich weiterzubilden. Bestenfalls gibt es dann noch ein weniger auf sich selbst gerichtetes zweites Standbein. Als Lehrer etwa oder in einer karitativen Einrichtung. Das hilft einem, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.

Wenn man so bedingungslos geliebt wird vom Publikum wie Sie, was macht das mit einem?

Ich bin wahnsinnig dankbar, auf Zuhörer zählen zu dürfen, die mir in dieser Weise folgen. Dass sie sogar mit mir zu neuen Ufern aufbrechen, nutze ich auch für Wege zur Moderne, und das ist eine unglaubliche künstlerische Befriedigung.

Neue Ufer? Gibt es eine grundsätzliche Lust, etwas zu riskieren?

Schon in jeder Interpretation liegt ein Risiko des Scheiterns. Na, Scheitern ist ein großes Wort, wir sprechen ja hier nicht von Neurochirurgie, sagen wir: des Nicht-Erreichens. Ich würde das Risiko, die Spielfreude, die Lust an der Neu-Kreation im Moment immer dem sicher Erprobten vorziehen.

Bei ihrem Konzert in der Essener Philharmonie wird Anne-Sophie Mutter Bruchs Violinkonzert spielen

Sie sind eine deutsche Kulturbotschafterin in bewegten Zeiten. Wie sehr ist einer Künstlerin bewusst, dass sie einen wunderschönen Beethoven-Satz spielt und in diesem Moment vielleicht der nächste Luftschlag ausgeführt wird?

Das ist mir sehr bewusst. Es läuft einem eiskalt den Rücken hin­unter, wenn man etwa nach Syrien blickt. Ich glaube aber, dass Musik beitragen kann, die Welt ein bisschen besser zu machen. Das ist die Emotionalität, die in einem Konzertsaal herrscht, das können aber auch musikalische Projekte sein. Musik bewegt mehr als wir in unserer – noch – sicheren Wohlstandsgesellschaft wahrhaben wollen. Ich bin glücklich, mit Daniel Barenboims West-Östlichem Divan-Orchester zu spielen: Fremde, ja feindliche Kulturen und Religionen finden dort zusammen in Musik. Ich fühle mich im besten Sinne verpflichtet, das zu unterstützen.

Die Stimme eines Erfolgreichen findet auch mehr Gehör als andere.

Das stimmt. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen täglich Gutes tun, das nicht in den Nachrichten vorkommt. Ich habe große Bewunderung für jemanden, der einen Alzheimer-erkrankten Menschen pflegt und viele andere Dinge, die ganz im Stillen geschultert, getragen und gelöst werden. Da sitzen wir alle im selben Boot.

Die Weltgeigerin hat es immer geschafft, aus der Klatschpresse herausgehalten zu werden

Sie sind ein Star, dem die Klatschpresse offenbar nicht nachstellt. Wie haben Sie das geschafft?

Ich habe großes Glück, dass man mich und mein Privatleben in Ruhe lässt. Ich habe früh eine klare Linie gezogen. Dazu gehört aber auch, dass ich zu bestimmten Veranstaltungen nicht gehe. Umgekehrt bleibe ich in meiner Heimat München im Fußballstadion ganz unbehelligt. Das ist einfach sehr schön.

Vielleicht bedankt sich die Presse bei jemandem, der trotz Welterfolgs sehr freundlich und geduldig mit ihr ist.

Wenn die andere Seite gut vorbereitet ist und neugierig, dann ist das eigentlich selbstverständlich. Aber vielleicht gibt es bei mir familiär auch ein Verständnis: Mein ältester Bruder ist Journalist, mein Vater war Journalist. Kritischer, gut informierter Journalismus ist mir wichtig. Wir sehen ja angesichts der politischen Verhältnisse, wie sehr wir ihn brauchen.

Täuscht es, dass das Publikum heute weniger diskret ist, da es zuverlässig das Smartphone zückt?

Kein Künstler schätzt diese Filmchenmacherei im Konzert. Wir reden klar vom Raub geistigen Eigentums. Youtube ist eine tolle Sache. Doch es kann nicht sein, dass die Rechte der Komponisten und In­terpreten im freien Raum stehen. Aber mein Publikum ist diszipliniert. Verstehen kann ich das Phänomen schon. Ich bin ja selber Fan!

Anne-Sophie Mutter kann sich auch von anderen Könnern inspirieren lassen, Roger Federer etwa

Verraten Sie mir, von wem?

Beispielsweise von Roger Federer. Und natürlich möchte ich, wenn sich schon mal die seltene Gelegenheit bietet, ihm etwas auf die Pelle zu rücken, ein Selfie mit ihm. Ich verstehe, dass jemand, der für die Musik brennt und für einen Interpreten, ein Foto haben will.

War Herr Federer mal in einem Mutter-Konzert?

Nein, ich glaub’ nicht, macht aber nix. Wenn er einen guten Tag hat, ist das unglaublich inspirierend. Wenn ich so ein Spiel gesehen habe, gehe ich mit einer ganz speziellen Energie auf die Bühne.

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In Essens Philharmonie gastiert Anne-Sophie Mutter am 20. Mai. Max Bruchs Violinkonzert steht auf dem Programm.

Mutter kommt mit Fabio Luisi und der Philharmonia Zürich, die auch Brahms’ Vierte und Takemitsus „Nostalghia“ spielen. Karten: 0201 - 81 22 200