Essen. . Neustart: Der Filmemacher Pablo Larraín erzählt in „Neruda“ von derschicksalhaften Flucht des Autors, Politikers und späteren Nobelpreisträgers

1946 ist ein Schlüsseljahr in der neueren Geschichte Chiles, wie dann erst 1973 wieder eines werden sollte, als sich General Pinochet an die Macht putschte. Um überhaupt eine Regierung bilden zu können, hatte der demokratisch gewählte Präsident Gabriel Gonzalez Videla nach Ende des Weltkriegs noch mit den Abgeordneten der Kommunistischen Partei paktiert. Doch als dann der Kalte Krieg aufzieht, geht er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht gegen die Kommunisten vor. So gerät auch Pablo Neruda ins Visier der Justiz. Um seiner Verhaftung zu entgehen, taucht der berühmte Dichter, Diplomat und kommunistische Abgeordnete 1946 unter. Damit beginnt eine mehr als ein Jahr lang dauernde Flucht durch sein Heimatland, die Neruda schließlich ins Exil führt.

Er folgt Nerudas Spuren durch ganz Chile

Das sind die historischen Fakten, auf die der chilenische Filmemacher Pablo Larraín in „Neruda“ zurückgreift. Der Stoff scheint wie geschaffen für eine linke Heldengeschichte. Doch Larraín geht es nicht um eine weitere ästhetische Heiligsprechung Nerudas. Er betrachtet die Ereignisse der schicksalhaften Jahre 1946/47 vielmehr durch die Brille von Nerudas Werken. So stellt er dem von Luis Gnecco ungeheuer eindringlich verkörperten Politiker und Poeten eine Art Gegenfigur gegenüber, den Polizisten Óscar Peluchonneau (Gael Garía Bernal). Er soll Neruda finden und folgt dessen Spuren durch ganz Chile.

Was zunächst noch nach einer klassischen Thriller-Konstellation klingt und Erinnerungen an die europäischen Politkrimis der 70er- und späten 60er-Jahre weckt, nimmt schließlich eine ganz andere Wendung. Bernals manchmal einfach tölpelhafter und ziemlich übereifriger, manchmal aber auch genialer Polizist ist nicht nur durch seinen Auftrag, den er persönlich vom Präsidenten erhalten hat, an Neruda gefesselt. Die beiden verbindet ein noch viel komplexeres Band. In Larraíns surrealer Vision einer Welt, in der sich Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr sauber trennen lassen, ist dieser Óscar Peluchonneau ein Geschöpf des Dichters. Ein Polizist sucht seinen Autor, könnte man Larraíns Film in Anlehnung an den großen Modernisten Luigi Pirandello auch nennen.

Tragischer Held und Anti-Held

Gerade aus diesen übersinnlichen Verstrickungen zwischen Jäger und Gejagtem, zwischen dem Repräsentanten einer autoritären Staatsmacht und dem politisch Verfolgten ziehen Larraíns doppelbödige Bilder, die mal die französische Nouvelle Vague und mal Italo-Western zitieren, eine enorme Gefühlskraft.

Larraíns Film verweigert sich simplen Gegensätzen und bezieht auch nicht einseitig für eine seiner Figuren Stellung. Der Polizist ist ein tragischer Held, der wiederum dem Anti-Helden Neruda hilft, sich selbst zu finden. So wie der Film ihn porträtiert, ist Neruda ein Zerrissener. Auf der einen Seite gibt er mit seinen Werken den Armen und Unterdrückten Hoffnung. Auf der anderen benimmt er sich selbst wie ein dekadenter Ausbeuter. Politische Überzeugungen und private Sehnsüchte lassen sich eben nicht immer miteinander vereinbaren.