Duisburg. Ungeschönt und doch ausgewogen: Franz Voll hat ein Buch über Duisburg-Marxloh geschrieben. Sein Ziel: „Ich möchte zeigen, wie es wirklich ist“.

Der erste Spaziergang durch Marxloh führt Franz Voll zum Markt auf dem August-Bebel-Platz. An einer Eisdiele steht eine Gruppe junger Männer, „sie unterhalten sich in einer Sprache, die ich nicht verstehe“. „Unbehaglich“ und „nervös“ fühlt er sich da und wird auf dem Rückweg einen Umweg machen, nur um nicht mehr an den Männern vorbeigehen zu müssen. Ein Umweg, der ihn mitten hinein führt in sein Rechercheprojekt: „Inside Duisburg-Marxloh“ heißt es.

Marxloh: 17 000 Menschen, 60 Prozent Migranten, laut Polizei ein Stadtteil „mit Problemen“. Aber ei­ne „No-Go-Area“? „Ich möchte den Menschen zeigen, wie Marxloh wirklich ist“, sagt Franz Voll. In den vergangenen Jahren hat der 61-Jährige beim „Team Wallraff“ mitgearbeitet. Nun hat sich der gebürtige Essener, der heute auf Usedom lebt, ein halbes Jahr Zeit genommen für Marxloh: einen Stadtteil, dessen Na­me längst für „Sozialer Brennpunkt“ steht.

Angenehm leise und ausgewogen

Das Buch, das aus den Begegnungen und Gesprächen entstand, kommt angenehm leise und ausgewogen daher, ohne aber Probleme zu verschweigen. Wenn Voll beim Karnevalsumzug dabei ist, beim Kinderfest oder bei einer Pegida-Demonstration, wenn er mit einem Bulgaren über den „Arbeiterstrich“ redet oder mit einem jungen Türken über das „ungerechte“ Verhalten der Polizei, dann urteilt er nicht, sondern beschreibt. Da lesen wir von einem albanischen Türsteher, der sich für dieses Gespräch sehr gut bezahlen ließ, der von Hartz IV lebt und nebenbei mit Drogen handelt – „Wovor soll ich Angst haben? Ich habe gesehen, wie im Krieg mein kleiner Bruder erschossen wurde.“

Da erfahren wir von einem Roma aus Rumänien, dass es in seinem Dorf für 200 Euro Geburtsurkunden zu kaufen gibt – für Kinder, die nicht existieren, aber in Deutschland gutes Kindergeld bringen. Da hören wir von einem 74-jährigen Ur-Marxloher, dass er seit vier Jahren im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus geht – zweimal hatten ihn Jugendliche angegriffen. Willi heißt der Rentner aus Marxloh, der Franz Voll zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen hat, und unter den Gästen sitzt auch Gottfried, der mit 70 Jahren noch einmal umgezogen ist – nach Essen. „Obwohl ich mein ganzes Leben in Marxloh gewohnt habe.“

Vorbereitung aufs Leben

Auf der anderen Seite ist da Ursel, die aus einer „Thyssen-Familie“ stammt, denn alle haben sie dort gearbeitet. Die Fremden im Stadtteil, die habe es doch immer schon gegeben, meint sie, schon ihre Großmutter hatte einst „Kostgänger“ aufgenommen. Auf der anderen Seite ist das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium, in dem 80 Prozent der Schüler Migrationshintergrund haben, in dem es drei „internationale“ Klassen gibt, in denen niemand Deutsch spricht – die „beeindruckendste Begegnung“ nennt Franz Voll seinen Besuch auf dem Schulhof dort. „So viele Menschen haben mir gesagt, wie sehr sie diese Schule lieben.“ Und eine Schülerin erzählt ihm strahlend: „Wenn alle sagen, dein Stadtteil ist ein Ghetto, sage ich: Jep. Aber ich werde hier aufs Leben vorbereitet.“

Es ist das große Verdienst dieses Buches, die Befunde nur vorsichtig zu kommentieren. Leser, die ein letztgültiges Urteil erwarten, werden enttäuscht. Alle anderen erwarten erhellende, erschreckende, tröstliche Einblicke in einen Stadtteil mitten im Revier.

Das Buch

Franz Voll: Inside Duisburg-Marxloh. Ein Stadtteil zwischen Alltag und Angst. Verlag Orell Füssli, 224 S., 17,95 €