Keine Frage: Der Mann schwimmt auf einer Erfolgswelle. Für die aktuelle Tour waren schon vor der Premiere nur noch Restkarten erhältlich – also legte er direkt noch mal 28 Auftritte im Herbst nach. Wir sprachen mit dem 74-Jährigen über den Erfolg, seine jugendliche Ausstrahlung und neue Projekte.


Lieber Herr Jürgens, Sie singen, spielen, tänzeln, entertainen in einem strammen Drei-Stunden-Programm fröhlich durch die Konzertsäle. Andere sind in Ihrem Alter froh, wenn sie ohne Gehhilfe auskommen. Auf einen Außenstehenden wirken Ihre Fitness und ihre Frische nahezu unerklärlich.


Jürgens: So lange es nicht unerträglich ist, soll’s mir recht sein. (lacht)


Da brauchen Sie sich sicher keine Sorgen zu machen.


Jürgens: Im Ernst: Älterwerden ist doch keine Krankheit. Viele Alte sind selber schuld, weil sie sich zu sehr gehen lassen. Ich halte überhaupt nichts davon, Menschen mit 60 Jahren aus dem Berufsleben herauszureißen. Ärzte zum Beispiel werden erst in diesem Alter richtig gut, weil sie die notwendige Erfahrung haben, um Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen.


Und Musiker?





Jürgens: Ich glaube, dass sich meine Kreativität noch vergrößert hat. Ich habe sogar das große Glück, dass meine Stimme besser geworden ist. Ich habe eine unglaubliche Kraft in der Stimme, die ich früher nicht gekannt habe. Warum soll ich sie dann nicht tönen lassen, wenn es Hunderttausende gibt, die sie hören wollen? Das ist wie ein Wählerauftrag, den ich habe.


Halten Sie sich für eitel?


Jürgens: Nein. Ich würde mich niemals aufdrängen, wenn die Leute nicht kämen.


Davon kann sicher keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Sie sind heute so populär wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gibt es etwas, das Sie noch erreichen möchten – oder ist das gar nicht mehr möglich?


Jürgens: Ich bin seit einigen Jahren in einer sehr entspannten Lebenssituation, weil ich mir nichts mehr beweisen muss. Früher in meiner Karriere hat die Qualität meiner Arbeit darunter gelitten. Das nächste Album musste irgendwie in die Charts, ein Vertrag musste verlängert werden, die Tournee musste laufen. Heute geht das an mir vorbei. Ich bin entspannter, der Spaß steht im Vordergrund. Ich verwirkliche Dinge, von denen ich immer geträumt habe. Zum Beispiel schreibe ich an einem neuen Buch mit Kurzgeschichten. Und mein erstes Buch, „Der Mann mit dem Fagott“, steht endlich vor der Verfilmung. Noch in diesem Jahr soll gedreht werden.


Ja, ich hörte davon. Das Buch ist ein Roman mit autobiographischen Zügen, der eng mit der Lebensgeschichte Ihres Großvaters Heinrich Bockelmann verknüpft ist. Regie führt Miguel Alexandre, der auch „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ gemacht hat.





Jürgens: Ein Bombenregisseur! Da fühle ich mich gut aufgehoben. Wie in einer warmen Badewanne. Ich bin überzeugt davon, dass das eine tolle Arbeit werden wird.


Abgesehen davon, dass Ihr Buch die Vorlage bildet: Sind Sie aktiv an dem Projekt beteiligt?


Jürgens: Begrenzt. Ich helfe, wo ich helfen kann. Und ich spiele eine kleine Rolle vor der Kamera. Udo Jürgens in seinem heutigen Alter. Das wird in Moskau gedreht. Aber das meiste spielt in meiner Kindheit und Jugend. Das muss ein Schauspieler machen. Den Zehnjährigen kann ich ja schlecht verkörpern. (lacht)


Wen würden Sie sich als Udo Jürgens wünschen?


Jürgens: Das muss ein vollkommen unberührtes Gesicht sein. Ein bekannter Schauspieler könnte mich nicht spielen, das würde nicht funktionieren. Deshalb suchen wir an den Schauspielschulen einen jungen Schlaks, groß und dünn, der sehr musikalisch sein muss. Aber da gibt es unglaublich viele tolle Typen.


Wo wir gerade von Ihrer Biographie sprechen: „Es gibt Leistung ohne Erfolg, aber es gibt keinen Erfolg ohne Leistung“, sagte der französische Diplomat und Schriftsteller Rochefoucauld schon im 17. Jahrhundert. Was glauben Sie: Worin besteht Ihre Lebensleistung?


Jürgens: Leider Gottes kann ich den Satz für die heutige Zeit nicht mehr bestätigen. Es ist etwas Neues eingetreten: Es gibt Erfolg ohne Leistung, wenn auch kurzfristig. Denken Sie daran, wie viele Milliardäre in nur wenigen Jahren durch Börsenspekulationen entstanden sind. Allerdings waren die meisten auch schnell wieder pleite. Auch im Showbusiness bieten sich durch die explosionsartigen Möglichkeiten der Vervielfältigung ganz andere Chancen. Ich traue dem Satz deshalb nicht mehr so ganz, auch wenn er für langfristigen Erfolg sicher noch stimmt.


Also zum Beispiel für den Erfolg, der Sie über die Jahrzehnte begleitet – bedingt durch Ihre Lebensleistung.


Jürgens: Das wird häufig an mich herangetragen. Aber für mich ist das nicht von großer Bedeutung. Sicher, ich habe ein schönes Haus, kann mir guten Urlaub leisten und ein wunderbares Auto fahren. Aber ich prasse nicht rum, gebe nicht an – sondern denke über das nach, was ich noch bewegen könnte. Die Qualität meiner Arbeit ist mir viel wichtiger als mein persönlicher Luxus.


Mit großem Erfolg feierte im Dezember 2007 in Hamburg das Musical „Ich war noch niemals in New York“ mit 23 Ihrer Songs Premiere. Ist das ein repräsentativer Querschnitt Ihres Schaffens? Oder wird da etwas zusammengefügt, was eigentlich gar nicht zusammengehört?


Jürgens: Die Story ist ja eigentlich das, was erstaunlich gut ankommt. Und das wundert mich gar nicht: Eine Drei-Generationen-Geschichte zu machen, ist eine hervorragende Idee. Es ist das, was jeder, der im Theater sitzt, erlebt: Jeder hat eine Oma, jeder hat eine Mutter, jeder hat einen Vater, und sehr viele haben auch Kinder. Und jeder weiß, was es bedeutet, in diesen verschiedenen Generationen allen gerecht zu werden. Da gibt’s viel Spaß, aber auch viel Grund zur Nachdenklichkeit.


Also perfekter Stoff für ein Musical?


Jürgens: Diese Emotionen sind fantastisch dafür geeignet. Aber Sie haben natürlich Recht: Die Zusammenstellung der Lieder hat sich nach Popularität gerichtet. Der Produzent Joop van den Ende kam zu mir und hat gesagt: Udo, wir wollen deine Songs haben, aber wir wollen die großen! Man hat schon richtig in die Vollen gegriffen: „Aber bitte mit Sahne“, „Mit 66“, „Merci Cherie“, „Ich war noch niemals in New York“. Das ganz Interessante ist: „Griechischer Wein“ und das „Ehrenwerte Haus“ passen ja vielleicht gar nicht so ganz toll ins Musical. Aber die entpuppen sich als die größten Knaller, weil wir etwas Wunderbares gemacht haben: Diese Lieder haben wir einem homosexuellen Pärchen gegeben. Die sind sehr witzig, aber auch sehr menschlich, die beiden. Ich mag diese beiden Rollen unheimlich gern. Und denen haben wir zwei der größten Hits meiner Karriere anvertraut, ganz bewusst. Und gesagt: Diese Lieder, die müssen wir einem starke Paar geben. Und die beiden sind ein ganz starkes Paar. Mit dem ersten Kuss von Homosexuellen auf einer großen deutschen Musicalbühne. Da bin ich jetzt richtig stolz drauf.


Wer so lange im Geschäft ist – Sie haben schon 1950 einen Komponistenwettbewerb des ORF gewonnen -, der liefert in seinen Songs und Texten auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ich denke an Songs wie „Ein ehrenwertes Haus“, „Aber bitte mit Sahne“ oder „Griechischer Wein“. Sehen Sie sich auch als einen Chronisten nationaler Befindlichkeiten?


Jürgens: Ja, durchaus. Das gilt übrigens auch heute noch – wenn Sie an Lieder vom aktuellen Album denken, etwa „Völlig vernetzt“, „Tanz auf dem Vulkan“ oder „Fehlbilanz“. In diesen Liedern erkennen die Menschen die Gegenwart wieder. Obwohl ich als Romantiker gelte, als Schönfärber und Tröster. Ich glaube, in diesen Liedern liegt eine viel größere Wahrheit als in den meisten Rock’n’Roll-Songs.


Wo steht Deutschland 2009?





Jürgens: Nicht am Abgrund, und das gilt für Österreich genauso - für alle Länder der Europäischen Union. Die Probleme der Gegenwart sind durch das entstanden, worüber wir vorhin gesprochen haben: durch Karrieren über Nacht. Cleverness ohne Leistung. Aus der plötzlichen Möglichkeit, unanständig viel Geld in kürzester Zeit zu verdienen, haben diese Menschen grenzübergreifendes Unheil angerichtet. Aber ich bin davon überzeugt, dass diese Länder und die Menschen, die in ihnen leben, nicht in Armut versinken werden. Sie sind im Kern gesund. Und wir haben die Möglichkeit, derartige Entwicklungen künftig durch schärfere Kontrollen zu verhindern. Auch das ist eine positive Nachricht.


Werden Sie all das in neuen Songs verarbeiten?


Jürgens: Ich hoffe es. Aber ein Lied dauert nur drei Minuten. Es kann kaum mehr sein als eine Aneinanderreihung von Schlagzeilen und Gefühlsmomenten. Ein Lied ist wie ein Vogel, den man fliegen lässt. Der setzt sich auf einen Baum und fängt zu singen an. Aber er kann nicht die Welt verändern. Und das können Lieder auch nicht.


Eine letzte Frage drängt sich auf. Als wir letztes Jahr miteinander gesprochen haben, sagten Sie: Ich denke nicht ans Aufhören. Den Klavierdeckel mache nicht ich zu, sondern das Schicksal. Hat das für Sie noch Gültigkeit? Oder wollen Sie die Schlagzahl nun vielleicht doch peu à peu verringern?


Jürgens: Der Satz ist absolut noch gültig. Das Schicksal wird mir sagen, wann ich nicht mehr auftreten kann. Aber ich werde auch nie auftreten, wenn ich das Gefühl habe, dass die Leute mich nicht mehr wollen. Solange es Menschen gibt, die mich hören wollen, und solange ich die Kraft habe, es zu tun, werde ich auch am Klavier sitzen.


Dafür alles Gute, vielen Dank für das Gespräch.